Hotel Nirgendwo - Roman
später alles mit den Marken. Wir lassen es uns gutgehen. Ich esse eine große Pizza, einen Schokoladenkuchen, ein Eis mit Pudding, was keine besonders gelungene Kombination ist, und trinke am Schluss noch einen Kakao zum Hinunterspülen. Mein Magen hat Mühe, alles zu verarbeiten. Wenn ich einen Blick auf den Rucksack werfe, in dem weitere Tetrapaks sind, habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Auch mein Bruder hat zu viel gegessen, wir schweigen, es ist friedlich, wir genießen das Sattsein und das Klirren des Essbesteckes. »Sie müsste sich endlich losreißen«, sagt er plötzlich. Mit geht auf, dass er Mama meint, und ich bin froh, dass er nicht über mich und meine Schule spricht. Von mir aus können wir bis übermorgen über sie reden, über alles Mögliche. Ich schlage vor, was sie tun könnte, er aber ist schon in Gedanken bei etwas anderem und erzählt, sie sei sehr wütend auf ihn gewesen, als sein Zimmernachbar ihm einen Bonbon untergejubelt hat. Mir ist völlig schleierhaft, um was für eine Bonbongeschichte es nun geht, aber dann erfahre ich, dass sie am besagten Tag bei ihm unangemeldet aufgekreuzt ist und er es kaum geschafft hat, aus dem Bett zu kommen. »Sie lebt in einer anderen Welt«, sagt er, ich nicke, ich teile seine Meinung, und er schiebt mir über den Tisch hinweg etwas in die Hand. Ich sehe, dass es ein Fünfzig-Kuna-Schein ist, und als ich mich vorbeuge, um ihm einen Kuss zu geben, dreht er angewidert den Kopf zur Seite. Diesen Scherz macht er seit Jahren mit mir, mein Bruder, mein großer älterer Bruder. »Mama kommt morgen in die Schule«, sage ich, traue mich aber nicht, ihm die ganze Wahrheit zu sagen, denn keine Wahrheit ist so wichtig, dass ich mir von ihr den Abend versauen lassen würde. Wir gehen langsam zurück zu meinem Wohnheim, zum Abschied umarme ich ihn, so gern habe ich ihn. »Mach keine Dummheiten, Schwesterchen«, er sieht mich streng an.
Im Zimmer erzähle ich, dass ich mit meinem Bruder unterwegs war. »Du hast einen Bruder?«, wundert sich meine Zimmernachbarin Nikolina. »Hast du ein Foto?« – »Ja«, sage ich und hole aus meinem Portemonnaie das alte, zerfledderte Vertriebenenkärtchen. Mein Bruder hat keinen Vertriebenenausweis mehr, er hat ihn einmal im Streit mit Mama zerrissen und kauft sich seitdem immer ein Ticket für die Straßenbahn, weil er den Ausweis nicht mehr vorzeigen mag. »Das geht niemanden etwas an, wo ich herkomme«, hatte er damals gesagt. Er hat auch seinen allerersten Vertriebenenausweis zerfleddert und wollte uns weismachen, er sei ihm in den Fluss Save gefallen. Als er damals das Zimmer verlassen und Mama verheult ins Bad gegangen war, habe ich die Kartonfetzen vom Boden aufgesammelt und das Bild an mich genommen. Seitdem trage ich es in meinem Portemonnaie. Schon immer habe ich Fotos von meiner Familie bei mir getragen, aber von ihm hatte ich bis dahin keins. »Er sieht gut aus«, sagt Nikolina, »aber ihr seid euch kein bisschen ähnlich.« Nein, das sind wir nicht. Er ist wie Mama. Ich bin wie Papa. Wahrscheinlich haben wir entsprechend auch immer Partei ergriffen, nur dass ich manchmal befürchte, er würde unsere Mutter mehr hassen als lieben. »Ja, stimmt, er sieht gut aus, aber er hat schon eine Freundin. Tut mir leid.« Ich lächle Nikolina an. Ich mag seine Freundin, wir haben uns richtig angefreundet. Einmal habe ich sie gefragt, ob er ihr manchmal etwas über sich erzählt, über Papa, über all das. »Selten. Nur wenn er sich mit euch streitet, ist er sehr traurig, und wenn er traurig ist, dann redet er nicht, sondern legt nur seinen Kopf in meinen Schoß.« – »Und was macht dein Bruder?«, fragt meine Zimmernachbarin. – »Er studiert Jura«, sage ich. – »Ein sehr schöner Jurist«, sagt sie, »wenn er sich mal mit seiner Freundin zerstreiten sollte, musst du uns unbedingt miteinander bekannt machen.« – »Ja, klar«, sage ich. Er hat sich für Jura eingeschrieben, so viel weiß ich, zwei Tests hat er schon bestanden, aber wenn er am Wochenende nach Hause kommt, sehe ich ihn nie mit einem Buch in der Hand. Er schreibt immer nur in sein Tagebuch, in seinem kleinen Schrank stapelt sich ein Lederbändchen nach dem anderen. Als er noch jünger war, hat er an die Tür des Schränkchens immer einen Faden montiert, um zu sehen, ob jemand an die Hefte ging, und als ich dahinterkam, öffnete ich den Schrank nicht mehr. Einmal hatte er sein Tagebuch auf dem Tisch liegen lassen, aber das ist schon lange her. Ich habe
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