Hotel Pastis
überwinden, die ihn daran hinderte, sich intensiv mit Françoise zu beschäftigen. Amüsiert beobachteten Nicole und Ernest, wie die beiden sich umkreisten und wie junge Tiere vorsichtig beschnupperten. Sie versuchten, eine Brücke zu schlagen zwischen dem texanischen Englisch und dem provenzalischen Französisch. Boone konnte inzwischen auf Französisch Bier bestellen, und Françoise beherrschte immerhin schon so grundlegende Redewendungen wie »have a nice day« und »how you doing«. Eines Nachmittags begannen sie sogar, auf eine höhere Ebene vorzustoßen und einzelne Körperteile zu benennen, doch ihre Studien wurden durch einen Anruf vom Bahnhof in Avignon jäh unterbrochen. Onkel William war aus Venedig eingetroffen.
Simon fand ihn in der Bahnhofsbar vor einem Glas pastis sitzend. Er fächelte sich mit einem zerschlissenen, vergilbten Panamahut Luft zu. Die Hose, die er trug, sah der Kordhose, die er beim letzten Mal angehabt hatte, ziemlich ähnlich — ein altes ausgebeultes und abgewetztes Ding — , und die zerknitterte Leinenjacke war von jener blassen schmuddeligen Eierschalenfarbe, die ältere Engländer, welche sich in wärmere Klimazonen wagen, so gern zu tragen pflegen. Das rote, schweißnasse Gesicht unter dem schütteren silbergrauen Haar hellte sich auf, als Simon über die Gepäckberge zwischen den Tischen stieg, um sich einen Weg zu ihm zu bahnen.
»Mein lieber Junge, wie gut das tut, in der Fremde ein vertrautes Gesicht zu sehen — und dann so braungebrannt. Du siehst wirklich prächtig aus. Die Provence scheint dir gut zu bekommen, das ist ja auch nur verständlich.« Er strich sich das Haar zurück und setzte den Hut auf. Dann schüttete er den restlichen pastis hinunter, schüttelte sich und klopfte sich auf die Jackentaschen. »Nur noch eine kleine Formalität, dann können wir gehen.« Er förderte ein wenig Kleingeld zutage und verzog bestürzt das Gesicht, als ob er erwartet hätte, eine Rolle Banknoten hervorzuzaubern. »Ach, meinst du, sie nehmen auch Lire?«
Simon bezahlte, nahm die beiden ramponierten Lederkoffer, auf die Onkel William mit einer ausholenden Handbewegung gedeutet hatte, und folgte ihm nach draußen zum Parkplatz. Doch plötzlich blieb der alte Mann so abrupt stehen, daß Simon beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. »Sieh nur! Die strengen Wächter der päpstlichen Stadt.« Er streckte seinen Arm aus und deutete auf den Festungswall auf der anderen Straßenseite. »Der Odem der Geschichte, Licht der Provence! Hinreißend, einfach hinreißend. Ich spüre schon, wie sich die Muse regt.«
»Wir sollten aber nicht auf der Busfahrbahn stehen bleiben.« Im Auto stürzte sich Onkel William auf Simons Zigarren und zündete sich mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit eine davon an. Venedig sei kein schönes Erlebnis gewesen, berichtete er. Die Menschenmengen und die Preise, diese scheußlichen Tauben überall, das Mißverständnis bei der Rechnung in der pensione - nein, es tat ihm kein bißchen leid, die Stadt verlassen zu haben. Was für eine Freude sei es dagegen, Kost und Logis in der Provence zu finden, wo die Sonne jeden Künstler aufblühen ließ.
»Ich habe da ein kleines Problem, was Kost und Logis betrifft, Onkel Willy. Das Hotel ist vollkommen ausgebucht.«
»Kein Problem, mein lieber Junge, kein Problem. Du kennst mich doch. Ich habe nicht viele Bedürfnisse und lebe sehr einfach.« Er nahm einen langen Zug an der Havanna. »Ein Rollbett in der Dachstube, Suppe und trockenes Brot, die edle Reinheit des asketischen Lebens.«
Simon wußte, was das bedeutete. »Hast du Geld?«
Onkel William klopfte die Asche von der Zigarre und blies auf die glühende Spitze. »Leider ist die Rezession auch an mir nicht spurlos vorübergegangen.«
»Du bist also pleite.«
»Ich habe Cash-flow-Probleme.«
»Du bist pleite.«
»Ich warte auf eine Überweisung.«
»Immer noch? Dieselbe wie damals?«
Onkel William verweigerte jede weitere Diskussion über seine Finanzen und richtete die Aufmerksamkeit auf die Schönheiten der Landschaft. Als sie den Stadtrand von Avignon hinter sich gelassen hatten und an der Prostituierten mit dem BMW vorbeifuhren, die jetzt ihr Sommerkostüm, Shorts und hohe Stöckelschuhe, trug, zog er galant den Hut und murmelte: »Reizend, reizend.« Simon schüttelte den Kopf und überlegte, wo er Onkel William unterbringen könnte, denn alles sah danach aus, daß es ein ausgedehnter Besuch werden würde. Er konnte eine Woche im Hotel bleiben,
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