Hotel van Gogh
Patenonkel gekettet, an ihn und seinen Wahnsinn? Sie sucht nach Spuren in seinem Gesicht, aber sie sieht nur diesen ganz normalen Kleinkinderkopf, verschnupft und blass, der winzige Körper, der wie ein Hund auf allen Vieren hinter ihr her krabbelt.
Fest steht, dass sie Holland nie wieder verlassen werden. Wo sollten sie auch hin, ankerlos in diesem Leben, dem plötzlich jeder Sinn genommen ist?
Wenn sie damals nach Theos erstem Heiratsantrag nur standhaft geblieben wäre, das Unheil wäre spurlos an ihr vorbeigegangen. Irgendwann später hätte Andries erwähnt, dieser van Gogh, du erinnerst dich, der dich einmal heiraten wollte, ist dem Wahnsinn verfallen und in einer Anstalt in Paris elendig verreckt, dreiunddreißig Jahre ist er alt geworden, stell dir vor, du wärst jetzt Witwe.
Warum sie seinen zweiten Antrag nicht ebenso zurückgewiesen hat wie den ersten, wird ihr ewig unerklärlich bleiben. Viel hatte er nicht vorzuweisen, und besonders ansprechend sah er auch nicht aus. Dennoch hat sie Ja gesagt, vielleicht gereizt von der Aussicht, in Paris ein neues, aufregendes Leben fern von der Enge ihrer holländischen Provinz zu führen.
In Wirklichkeit hat Theo ihr nie gehört. Vincent lastete allgegenwärtig wie ein Albatros über ihrem Leben. Allerdings hat sie seinen zerstörerischen Einfluss damals nicht erkannt. Erst jetzt, in diesen langen einsamen Wintertagen, fällt es ihr wir Schuppen von den Augen. Theo lebte tatsächlich von Brief zu Brief des Bruders, erfüllte ihm jeden seiner nie endenden Wünsche. Dabei konnte er es Vincent nicht recht machen, wie sehr er sich auch bemühte.
Vincent verstand es meisterhaft, seinen Bruder zu beherrschen. Fast schlimmer noch als die Selbstverstümmelung in Arles war sein oft monatelanges Schweigen. Heute im Rückblick bezweifelt Johanna auch, dass es ein Versehen war, dass Vincent der Selbstmordversuch nicht sofort gelungen ist. Erst musste er Theo in seinen letzten aussichtslosen Kampf miteinbeziehen, um ihn so für immer an sich zu ketten.
Vincents Zustand damals bei seiner Ankunft in Paris wirkte wohltuend und beruhigend auf Theo. Aber sobald Vincent spürte, dass ihm die Macht über Theo entglitt, verließ er überstürzt Paris, von einem Tag auf den anderen. Aus Auvers schrieb er wieder diese quälenden Briefe und verfiel erneut in sein unruhiges, unstetes Dasein. Von neuem beherrschten seine Nachrichten, sein Schweigen und seine Probleme Theos und Johannas Leben. Als hätten sie nicht an ihren eigenen Sorgen genug zu tragen gehabt!
Schließlich hatte er es erreicht, dass sie, Johanna, sich die Schuld am Verfall der Familie gab. Denn durch sie wurde das Gleichmaß im Leben der Brüder gestört, sie war der Fremdkörper. Vincents schwerste Krisen fielen mit den wichtigsten Anlässen im Leben von Theo und ihr zusammen. Geschah alles deswegen, weil sie das zwischen den Brüdern bestehende, unsichtbare Gefüge durcheinandergebracht hatte?
Die Einheit zwischen den Brüdern war die Konstante in Vincents und Theos Leben. Dies hat Theo in aller Deutlichkeit in dem Brief, den er unmittelbar nach Vincents Tod an ihre Mutter schrieb, zum Ausdruck gebracht: Er war so sehr mein eigener Bruder! hatte er geschrieben. Als hätte er damit alles verloren, als gäbe es Johanna nicht und seinen Sohn! Aber so war es in der Tat, er hatte alles verloren. Ohne Vincents Selbstmord wäre Theo nie so schnell dem Wahnsinn verfallen. Natürlich lässt sich das im Nachhinein nicht beweisen.
Vincent war ihr Verhängnis, er hat ihr Leben zerstört. Niemals will sie mit ihm je wieder zu tun haben, sie hat ihn aus ihrem Leben verbannt, für immer!
Auch sonst stand ihr Leben in Paris unter keinem guten Stern. Andries, ihr Bruder, war eine einzige Enttäuschung. Seit Theos Tod maßt er sich die Rolle ihres Vormundes an, jedenfalls fühlt sie sich so von ihm behandelt. Die unmündige kleine Schwester, die dankbar sein sollte, dass er sich um ihre Anliegen in Paris kümmerte! Die Wohnung verkomme, der riesige Stapel von Bildern, den Vincent hinterlassen hat, gehöre auf den Müll! Dass sie unverkäuflich seien, habe Theo doch wohl ausreichend unter Beweis gestellt. Ihr fehle die Lebenserfahrung für die vielen Entscheidungen, die unvermittelt auf sie zukämen, hielt Andries ihr vor.
Trotzig widerspricht sie Andries. Dabei wäre die einzig vernünftige Lösung, seinem Rat zu folgen, einen Schlussstrich zu ziehen, die Wohnung aufzulösen, zu verkaufen, was man verkaufen kann, und den Rest auf
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