Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen
innerer Gurt zurückgehalten. »Wird schon gut gehen«, war meine Einstellung. Es stellte sich aber heraus, dass ich sehr naiv gewesen war, und ich hatte viele schlaflose Nächte zu überstehen, bis am Ende klar war, dass ich mit einem blauen Auge davonkommen würde. Hätte auch ganz anders kommen können. Damals habe ich mir geschworen: Nie wieder lässt du dich spontan auf so ein Abenteuer ein.
Mit einem Anschnallgurt um den Leib haut es dich nicht aus den Schuhen. So wie dich ein physischer Gurt im Auto davor bewahrt, mit dem Kopf voran durch die Frontscheibe zu fliegen, hält dich der mentale Gurt davon ab, überhastet Risiken einzugehen und allzu schnelle Bewegungen auszuführen – nicht umsonst heißt ein Gurt in Fachkreisen »Rückhaltesystem«. So schützt du dich vor den Wechselfällen und Unwägbarkeiten des Lebens. Um die Kontrolle zu behalten, brauchst du diese inneren Gurte – je mehr, desto besser, könnte man meinen.
Ich frage mich nur: Ist das wirklich so? Oder gibt es einen Punkt, an dem es zu viel wird?
Bewegungslos im Recaro-Sitz
Wenn du in dein Auto steigst, gilt dein erster Griff dem Anschnallgurt. Die Bewegung läuft derart automatisch ab, dass du sie schon gar nicht mehr bewusst wahrnimmst. Der Griff mit der rechten Hand über die linke Schulter und – klick – bist du angeschnallt. Die Autobauer verwenden viel Arbeit und Know-how darauf, dass du den Gurt beim Fahren gar nicht spürst. Du lehnst dich vor, um den Sender im Autoradio zu ändern, du drehst dich nach deinen Kindern auf dem Rücksitz um oder schaust an der roten Ampel stehend im Handschuhfach nach einem Kaugummi. Ein guter Gurt limitiert dich nicht in deinen Bewegungen. Jedenfalls nicht in den vorgesehenen. Wenn du allerdings im Stop-and-go-Verkehr schnell mal unter dem Beifahrersitz nach dem verlorenen Kuli suchen willst, geht das nicht. Doch du bist schon so sehr daran gewöhnt, angeschnallt zu sein, dass dir das gar nicht mehr auffällt. Ganz automatisch verschiebst du die Suche nach dem Kuli auf später, wenn du daheim angekommen bist.
Dir wird gar nicht klar, dass du soeben auf ein Stück Freiheit verzichtet hast.
Und das ist das Dumme an Sicherheitsgurten: Irgendwann nimmst du sie gar nicht mehr wahr. Du bemerkst gar nicht mehr, dass du im Sicherheitsmodus unterwegs bist. Und was am schlimmsten ist: Dir ist auch nicht bewusst, dass der Gurt dich in bestimmten Bewegungen zurückhält, deine Freiheit beschneidet. Auf einmal ist der Gurt nicht mehr dein rettender Engel, sondern dein Kerkermeister.
Anschnallgurte minimieren das Risiko. Aber sie hindern uns auch in unseren Bewegungen.
Bin ich ein Gurtmuffel? Ein Rückhaltesystem-Hasser? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich weiß sehr gut, wie wichtig es ist, in den richtigen Momenten angeschnallt zu sein. Einmal flog ich mit einer kleinen Cessna in den Windschatten eines Berges hinein und hatte plötzlich keinen Auftrieb mehr. Der Flieger fiel ab wie ein Sack Kartoffeln. Ich war lässig gewesen und viel zu locker angeschnallt und knallte mit dem Kopf so stark an die Decke, dass ich nur noch Sterne sah. Ein bisschen mehr Wucht und ich wäre ohnmächtig geworden. Dann wäre es mit mir vorbei gewesen.
Noch einmal: Gegen Gurte habe ich nichts. Aber gegen das automatische, unüberlegte Anlegen eines Sicherheitsgurtes. Und vor allem dagegen, ein ganzes Leben nur noch mit Gurt zu verbringen. Das ist dann so, als würdest du in deiner Garage angeschnallt in deinem Wagen sitzen, um das Autoradio auszubauen. Klar, dass ich nicht an reale Gurte denke, wenn ich zu einem bewussteren Umgang mit Rückhaltesystemen aller Art aufrufe. Sondern an all die Situationen, in denen du dich ohne Not hemmen lässt, in denen du gerade dann auf Spontaneität verzichtest, wenn sie notwendig ist, und in denen du dich lieber tot stellst, als lebendig zu sein.
Im Grunde ist es ja nicht nur ein einziger Gurt, den du dir anlegst. Das Haus, das du dir mit einem Kredit kaufst, um dich im Alter sicher zu fühlen – klick –, die Lebensversicherung, die einen viel zu großen Teil deines Einkommens auffrisst – klick –, die nicht gemachte Weltreise, weil du doch für deinen Papagei sorgen musst – klick. Am Ende siehst du aus wie eine Mumie, eingewickelt in Gurtband und nicht mehr fähig, dich zu bewegen. Bekannterweise ist in Mumien nicht viel Leben … Wenn du dich im wahrsten Sinne des Wortes entwickeln willst, musst du dir immer wieder bewusst machen: Ist es jetzt wirklich sinnvoll, mich abzusichern?
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