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Hühnerbus und Stoppelhopser (German Edition)

Hühnerbus und Stoppelhopser (German Edition)

Titel: Hühnerbus und Stoppelhopser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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verbliebenen Stuhl und lachte sie aus seinem zahnlosen Mund an. Auf mindestens neunzig schätzte ihn Tinchen, aber wahrscheinlich war er zwanzig Jahre jünger, die Eingeborenen sahen meistens älter aus, als sie waren, und als sie William fragte, konnte der auch keine Auskunft geben. So um die Fünfundsechzig, meinte er, ganz genau wisse das nicht mal der Großvater selber.
    Irgend etwas hatte William noch auf dem Herzen. Er druckste herum, und schließlich fragte er, warum denn Tobias nicht mitgekommen sei. Der habe doch einen Fotoapparat, nicht wahr?
    Frau Antonie begann mit einer etwas ungenauen Erklärung, weil ihr die einschlägigen Vokabeln für die diversen Krankheitssymptome ihre Enkelkinder fehlten, doch Karsten hatte gleich den Eindruck, daß William weniger an Tobias als an dessen Kamera interessiert war. Zum Glück hatte er seine eigene mit. Ob er ein Erinnerungsfoto machen solle?
    William nickte eifrig. Dann holte er die Einkaufstasche vom Haken und kippte ihren Inhalt auf dem Bett aus. Mama Kauundas identity card kam zum Vorschein, ein paar amtliche Papiere, eine Ansichtskarte mit der Golden Gate Bridge, an einen Mr. Henderson in Portsmouth adressiert, eine Glasperlenkette und ein abgegriffener Briefumschlag. Aus ihm zog William zwei Fotografien. Eine zeigte ihn zusammen mit einem anderen Schwarzen, auf der zweiten war er allein zu sehen in langen Hosen, die ihm viel zu groß waren, und einem Hemd, dessen Manschetten gerade noch die Fingerspitzen freiließen. Drei Jahre alt seien die Aufnahmen, sagte William, sein Freund habe sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Er habe ihm auch die Kleider geliehen und den Fotografen bezahlt. Aber Mama sei noch nie fotografiert worden, Mary und Jimmy auch nicht, und ob der Mister wohl so freundlich wäre …
    Selbstverständlich war der Mister so freundlich. Einen halben Film verknipste er, angefangen mit der gesamten Kauunda-Sippe bis hin zu Einzelporträts, sogar eins von Opa. Danach mußten sich noch die German friends dazustellen, und zum Schluß bat William um eine Aufnahme von Mama, wenn sie so richtig fein angezogen war. Mama verschwand, und als sie zurückkam, konnte Tinchen sich ein Lachen nicht verkneifen. Gelb war das Kleid mit bunten, pfenniggroßen Punkten, dazu ein Kopfputz aus dem gleichen Stoff und so kunstvoll gefaltet, daß er Tinchen an die gestärkten Serviettentürme von Frau Antonies Weihnachtstafel erinnerte.
    Als das letzte Bild auf dem Film verknipst war, begann das große Abschiednehmen. Karsten versprach genügend Abzüge, damit jedes Familienmitglied mindestens ein Foto bekommen könne, die Uhr werde er auch nicht vergessen, und Ansichtskarten werde er ebenfalls beilegen. Frau Antonie versprach nichts Konkretes, doch sie deutete an, daß auch sie sich demnächst melden werde. Und Tinchen versprach überhaupt nichts. Sie zog ihren Geldbeutel aus der Tasche und kippte seinen gesamten Inhalt in Mama Kauundas Hand. Viel war es nicht, doch immer noch mehr, als William in einer ganzen Woche verdienen konnte. Tränen liefen über Mamas Gesicht, und nach einem kurzen Zögern drückte sie Tinchen an ihre ausladende Brust. Da fing auch Tinchen an zu heulen. Dann fiel ihr ein, daß sie ihre Brille in der Hütte liegengelassen hatte. Sie riß sich von dem beschützenden Busen los und lief zusammen mit William zurück ins Haus. Die Brille lag neben der Einkaufstasche auf dem Bett. Sie steckte sie ein und fuhr flüchtig über die Messingstangen. Das gehöre doch sicher seiner Mama, sagte Tinchen, und das andere vermutlich Mary. Wo er und Jimmy denn schliefen? Im Nebenraum?
    Bereitwillig öffnete William die Tür. Tinchen sah nur ein dünnes Drahtseil quer durchs Zimmer gespannt, auf dem einige Kleidungsstücke hingen. Zwei sogar auf richtigen Bügeln, die anderen waren nur ordentlich zusammengefaltet darübergelegt: Eine ausgeblichene Hose von William, einige T-Shirts, zum Teil reichlich durchlöchert, zwei Röcke, Blusen und verschiedene Kindersachen. Ein einfacher Tisch war zu sehen mit zwei Stühlen sowie einem Hocker, ein alter Nachttisch mit einem Deckchen drauf und einer Kerze, und als Wandschmuck ein Kalenderbild. Der Schnee des Montblanc schaute schon etwas vergilbt aus.
    Das sei nicht sein Zimmer, griff William Tinchens Frage auf, er habe ja gar keins. Zusammen mit Jimmy schlafe er nebenan in dem Holzbett. Mama und Mary gehöre das schöne große. Das hätten sie noch nicht lange, erst seitdem die Großmutter gestorben war, das sei nämlich ihres

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