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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Saint-Hyacinthe am Jardin des Tuilleries und verbrachten unsere Zeit mit Shoppen, Essen, Trinken und endlosen Spaziergängen durch die Straßen der prächtigen Stadt. An den Vormittagen suchte ich ein kleines Café auf, um zu schreiben. Dort saß ich zurückgezogen an einem winzigen Ecktisch und umgeben von den miteinander konkurrierenden Gerüchen nach frischem Brot, Kaffee und Zigarettenqualm, die sich mit lebhaften Diskussionen und dem Klappern von Besteck und Geschirr vermischten, während Marcus bis mittags schlief.
    Abends gingen wir aus, genossen stundenlang das köstliche Essen, bevor wir zum Trinken und Tanzen in einen Klub weiterzogen. Zuletzt kehrten wir ins Hotel zurück, um uns zu lieben. Ich kann mich an keine einzige noch so kleine Auseinandersetzung während dieser Reise erinnern, aber vielleicht betreibe ich Geschichtsklitterung. Vielleicht stritten wir darüber, welche Sehenswürdigkeiten die wichtigsten seien, ob wir uns mehr als ein Hermès-Tuch leisten könnten und wohin es zum Abendessen gehen würde - die normalen Verhandlungen, die ein Paar im Alltag führt. Aber ich konnte mich an nichts dergleichen erinnern.
    Aber dann fallen mir immer wieder Momente ein, Kleinigkeiten, denen ich damals keine Bedeutung beimaß. Marcus hatte behauptet, nie zuvor in Paris gewesen zu sein und sich mit dem Überraschungsgeschenk selbst einen kleinen Traum erfüllt zu haben. Aber als wir dort unterwegs waren, fand er sich mühelos zurecht, so als würde er die Stadt kennen.
    »Bist du dir sicher, noch nie hier gewesen zu sein?«, fragte ich, die Nase im Reiseführer. Er brachte uns zielsicher zur richtigen Metro und fand jedes Café, jeden Laden und jedes Museum auf Anhieb, während ich mir vorkam wie auf dem Mond.
    »Vielleicht in einem früheren Leben?«, sagte er. Er hatte ernst geklungen, so dass ich von meinem Buch aufgeschaut hatte. Aber als unsere Blicke sich trafen, lächelte er. Er wies auf seinen Kopf. »Schlau. Du hast einen sehr schlauen Mann geheiratet.«
    Und tatsächlich schien Marcus immer den Weg zu kennen, egal, wo wir uns gerade befanden. Er hatte einen phänomenalen Orientierungssinn, ein unheimliches, innerliches Navigationsgerät. Manchmal verirrte ich mich sogar in meiner eigenen Stadt, drehte mich nach einer Fahrt mit der U-Bahn im Kreis und fragte mich, wo Osten und wo Westen war. Aber nicht Marcus. Niemals. Es war beinahe ärgerlich festzustellen, dass er immer richtig lag. Doch irgendwann verließ ich mich auf ihn. Ein Mann wie Marcus ist der Grund für andere Männer, niemals nach dem Weg zu fragen.
    An unserem letzten Abend in Paris kehrten wir fast ein wenig traurig zum Hotel zurück, weil die Reise sich dem Ende zuneigte.
    »Komm, einen Drink noch«, meinte Marcus und ergriff meine Hand.
    Eine schmale Treppe neben dem Gehsteig führte zu einem Souterrain hinunter. Aus der Dunkelheit wummerte uns elektronische Musik entgegen. Es war spät. Unser Flug ging früh am nächsten Morgen.
    »Warum nicht?«, sagte er, als ich zögerte. »Morgen um diese Zeit sind wir wieder zu Hause.«
    Die feuchte Steintreppe endete an einer schweren Holztür. Als Marcus sie aufzog, schlug uns eine Welle aus Lärm und Qualm entgegen. Wir wichen kurz zurück und wurden dann hineingesogen. Kurz darauf fanden wir uns mitten in einer Masse aus fremden Körpern wieder, die im Einklang mit der hämmernden Musik wogte. Wir kämpften uns zur Bar durch, wo Marcus der knapp bekleideten, gepiercten jungen Frau hinter dem Tresen die Bestellung entgegenbrüllte.
    Normalerweise fühle ich mich in Menschenmassen unwohl. Die vielen Eindrücke, Stimmen und Gesichter überwältigen mich, aber hier konnte ich mich seltsamerweise zentrieren und meine Umgebung distanziert und kühl betrachten. Mir war sofort klar, dass es sich um ein Lokal für Einheimische handelte; es fehlte jenes selbstbewusst Pariserische, das die Stadt in den Träumen der restlichen Welt auszeichnet. Irgendwie kam mir alles schmutzig und provisorisch vor. Das schicke, elegante Paris mit den teuren Boutiquen und Restaurants, das ich während der letzten Tage neidvoll bestaunt hatte, war durch eine alternative Kulisse ersetzt worden; überall blitzten Tätowierungen auf und glitzerten Piercings an den unmöglichsten Stellen, an Brustwarzen, Zungen, Augenbrauen. Ich beobachtete ein androgynes Pärchen, das knutschend am Ausgang stand. Die Frau hatte die Augen fest geschlossen und wiegte sich zu einem Rhythmus, den nur sie hörte. Auf der kleinen Bühne waren

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