Huete dich vor deinem Naechsten
Bestseller-Autorin entpuppt sich als Schurke - das Leben ist verrückter als jede Fiktion.
»Ich brauche das Geld, Jack.«
»Okay«, sagte er gedehnt. »Ich werde es morgen überweisen.«
»Nein, ich brauche es heute. In bar.«
Es entstand eine kurze Pause, während der ich ihn tippen hörte. Ich hasste Multitasking. Dann sagte er: »Sehr lustig.«
»Jack, hör mir gut zu«, fuhr ich fort, »ich meine es ernst.«
Eine weitere Pause, und dann hörten die Tippgeräusche abrupt auf. »Was ist los?« Jack und ich waren seit der Uni befreundet. Wir hatten uns in einem Seminar für kreatives Schreiben kennengelernt. Im Gegensatz zu mir hatte er nie die Geduld - oder das Talent - zum Schreiben gehabt, das wurde ihm dort klar. Er interessierte sich für die Honorare. Nach dem Abschluss fing er bei einer Literaturagentur an, die ein paar Jahre später meinen ersten Roman vermittelte. Irgendwann gründete er seine eigene Agentur. Wir waren Verbündete, Freunde, Kollegen.
Einmal, nur Wochen bevor ich Marcus kennenlernte, besuchten wir gemeinsam eine Konferenz in einer anderen Stadt, wo wir uns in einer Bar betranken und im Bett landeten. Vielleicht hatte diese Anziehung unterschwellig immer schon bestanden, aber unsere Freundschaft und berufliche Zusammenarbeit waren so gut, dass wir diesen neuen, möglicherweise nur vorübergehenden Aspekt unserer Zuneigung ignorierten. Mit Jack telefonierte ich fast ebenso viel wie mit meiner Schwester oder meinem Mann, aber keiner von uns erwähnte jemals wieder die gemeinsame Nacht. Nach dem Sex hatte ich mich rasch angezogen und war aus seinem Hotelzimmer geschlichen, während Jack tief und fest schlief. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er sich an irgendetwas erinnern konnte.
Nun erzählte ich ihm, was passiert war. Von dem Abend, als Marcus nicht nach Hause gekommen war, bis zu der Webseite, vor der ich gerade saß.
»Gütiger Himmel!«, flüsterte Jack. »Isabel, meinst du das wirklich ernst?«
»Ja«, sagte ich, »leider.«
»Du bist verletzt? Geht es dir gut? Wirklich?«
»Ich denke schon. Woher soll ich das wissen? Wie soll man sich in so einer Situation verhalten?«
»Ich fürchte, du begehst einen Fehler, Iz. Du solltest dich ins Bett legen und den Rest Leuten überlassen, die sich damit auskennen. Polizisten, Anwälten - dafür sind sie schließlich da.«
Wären wir im selben Zimmer gewesen, hätte er mir eine Hand auf die Schulter gelegt oder mich zum nächsten Sofa geführt. Ich stellte mir vor, wie er sich mit einer Hand durch sein volles schwarzes Haar fuhr. Ich sehnte mich nach einem Blick in seine braunen, warmen Augen, auf seinen Dreitagebart, ich sehnte mich nach der Ruhe und Sicherheit, die ich in seiner Gegenwart spürte. Stattdessen starrte ich auf die herbe Schönheit auf dem Computerbildschirm, und plötzlich bereitete mir die ätzende Mischung aus Angst und Wut Magenschmerzen.
»Das ist unmöglich. Ich habe schon viel zu viel aus der Hand gegeben. Er hat mich bestohlen. Er hat meiner Familie geschadet. Er wird nicht einfach so davonspazieren, während die Polizei damit beschäftigt ist, Durchsuchungsbefehle zu beantragen und Hinweise zu sammeln. Nein.«
Jack stieß jenes verzweifelte Seufzen aus, das mir wohl vertraut war, eine Art erschöpftes Ausatmen. Er hielt mich für dickköpfig und starrsinnig und ließ es mich oft genug wissen - bei Vertragsverhandlungen, im Lektorat, in Bezug auf Frauen, die er interessant und ich nicht gut genug für ihn fand, und bei der Frage, wo man sich zum Mittagessen trifft.
»Und jetzt?« Seine Stimme war eine Oktave höher. »Bist du auf der Flucht vor der Polizei? Das ist schlecht. Darüber sollten wir noch mal nachdenken.«
»Ich bin nicht ›auf der Flucht‹. Ich habe nichts verbrochen, versuche bloß rauszufinden, was vor sich geht, ich will den Schaden begrenzen. Gibst du mir jetzt das Geld, oder was?«
»Wäre das nicht ein Fall von Beihilfe?«
»Ich habe nichts verbrochen«, wiederholte ich.
»Aber falls die Polizei mich nach dir fragt, soll ich sagen, du hättest mich nicht angerufen, und ich wüsste nicht, wo du steckst?«
»Ich habe dich nicht angerufen«, antwortete ich, »du hast mich angerufen. Und du weißt nicht, wo ich bin.«
Er schwieg. »Okay. Ich besorge dir Bargeld.«
»Ich melde mich später.« Ich wollte den Anruf beenden, hielt mir das Handy aber wieder ans Ohr, als ich ihn sprechen hörte.
»Ich wünschte, ich könnte sagen, es sei eine Riesenüberraschung für mich, dass der Typ
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