Hueter der Daemmerung
frustriert, dass ich nicht dabei sein konnte. Immer wieder suchte ich den mentalen Kontakt zu Alex. Ich musste wissen, dass ihm nichts passiert war. Mittlerweile besaßen wir alle Handys, aber eine SMS war eben nicht dasselbe. Jedes Mal, wenn ich sein Energiefeld aufstöberte, erschien mir das vertraute Gefühl wie eine Umarmung.
Seb hatte mich gezwungen, das Auratraining für eine Weile zu unterbrechen und er hatte recht damit – nach stundenlangen Misserfolgen fühlte mein Hirn sich matschig an. Einfühlsam und locker zu sein klingt, als wäre es eine der leichtesten Übungen. Das Problem war nur, dass so viel davon abhing. Immer wieder machte mein Herz in derselben Sekunde, in der meine Aura sich veränderte, einen Satz und prompt kam das Silber wieder zum Vorschein. Frustrierend war gar kein Ausdruck. Wie sollte ich mich bloß davon überzeugen, dass es mir nicht wichtig war?
Als Reaktion auf meine Frage spürte ich, wie Sebs Geist sich mir öffnete, ohne dass er bewusst darüber nachdachte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich habe aber immer gewusst, dass er ein Engel war – ich bin mir nicht sicher, wieso. Vielleicht hat meine Mutter es mir erzählt.«
»Hast du ihn jemals in ihren Gedanken gesehen? So wie ich Raziel in Moms Gedanken?« Ich hatte Seb von Raziel und der Church erzählt.
»Nicht wirklich.« Er verzog das Gesicht, während er sich aufs Sofa fläzte und es sich in den Kissen gemütlich machte. »Ich … meine Mutter und ich hatten keine besonders enge … Bindung ist, glaube ich, das Wort.«
Ich erfasste ein Gefühl von Isolation und erhaschte einen kurzen Blick auf das Bild einer jungen Frau über zwanzig, die aussah wie er. Es überraschte mich nicht, dass Seb keine enge Beziehung zu seiner Mutter gehabt hatte – in allen Erinnerungssequenzen, die ich gesehen hatte, hatte sie entweder geweint, während ihr Freund ihn verprügelte, oder herumgeschrien, dass er selber schuld sei. Es war eine Erleichterung, ihn jetzt zu sehen, so gesund und entspannt. Ich merkte, dass meine Augen auf ihm ruhten, und schaute woandershin.
»Wie schlimm war das Angelburn-Syndrom deiner Mutter?«, fragte ich.
Seb schob eine Hand hinter den Kopf und dachte nach. Die festen Muskeln an seinem Arm spannten sich. »Richtig schlimm«, sagte er. »Es war aber anders als bei deiner Mutter. Ihr Verstand war bestimmt beeinträchtigt, aber sie konnte immer noch sprechen, immer noch Sachen erledigen.« Er wusste, dass ich die psychische Erkrankung meiner Mutter hatte geheim halten müssen, als ich noch kleiner war. Außer Alex war er der einzige Mensch, dem ich das jemals anvertraut hatte.
»Das Entscheidende war, dass meine Mutter Krebs hatte«, fuhr er fort. »Daran ist sie auch gestorben.«
Ich nickte. Er hatte mir erzählt, dass er herausgefunden hatte, dass seine Mutter tot war, als er als Neunjähriger auf der Straße gelebt hatte. Seitdem sie ihn im Waisenhaus zurückgelassen hatte, hatte sie ihn nicht ein Mal besucht – nicht ein einziges Mal in all den Jahren. Immer wenn ich daran dachte, bekam ich einen Kloß im Hals.
Seb streckte seinen weißbesockten Fuß aus und stupste gegen meinen Knöchel. »Nicht, Willow. Alles ist gut.«
So etwas passierte jetzt recht häufig und unsere fragmentarischen Unterhaltungen hätten auf Außenstehende reichlich befremdlich gewirkt. Ich schüttelte den Kopf. »Eben nicht. Für mich ist es furchtbar, dass du im Waisenhaus warst.«
»Das reformatorio war viel schlimmer«, sagte er gleichmütig. »Und das mit meinem Engel habe ich im Waisenhaus herausgefunden. Da gab es ein Zimmer, in das sie mich eingesperrt haben … und dort ist er mir das erste Mal erschienen. Das war es wert.«
Er war nicht so unbefangen, wie er sich anhörte. Ich konnte seine leichte Anspannung spüren, als er daran zurückdachte, und einen leichten Anflug von Angst – ein dunkler enger Raum, in dem er tagelang eingeschlossen gewesen war. Oh, Seb.
»Außerdem hätte ich ohne das Waisenhaus nie angefangen zu lesen«, ergänzte Seb. »Nie im Leben. Und ich glaube, was für dich das Autoreparieren ist, war für mich das Lesen.«
Langsam wiegte ich den Kopf hin und her. »Du wirst mich nicht davon überzeugen, dass das Waisenhaus im Grunde genommen eine gute Sache war. Vergiss nicht, ich habe es gesehen. Ich weiß, was du dort durchgemacht hast.«
»Ja, ich weiß«, sagte er sanft. Ein winziges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Du bist die Einzige auf der
Weitere Kostenlose Bücher