Hueter der Daemmerung
mir im Moment unmöglich, Seb zu berühren – obgleich er der einzige Mensch war, den ich berühren konnte. Ich entzog mich ihm. »Nicht! Ich kann nicht … du darfst mich nicht mehr in den Arm nehmen …«
»Willow!« Er legte die Hände um mein Gesicht und zwang mich sanft, ihn anzusehen. Seine Miene war verzweifelt. »Hör mir zu! Heute Nacht ist nicht passiert – ich bin immer noch dein Bruder. Bitte, lass mich dir helfen!«
Ich schlang die Arme um mich und kämpfte mit aller Kraft darum, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Mir kann nichts mehr helfen«, brachte ich schließlich über die Lippen. Meine Stimme klang leblos, tot. »Nichts, nie wieder.«
Ich spürte Sebs Mitgefühl. Es war so liebevoll, dass irgendetwas in mir nachgab. Wieder legte er die Arme um mich, als ich anfing zu weinen und zog mich an seine Brust. Diesmal hatte ich nicht die Kraft, mich gegen ihn zu wehren – und wollte es auch nicht mehr. Ich ließ zu, dass er mich hielt, und weinte an seiner warmen Schulter, während Schatten über die Wand neben uns huschten.
Irgendwann muss ich in einen erschöpften Schlaf gefallen sein. Als ich später wieder erwachte, lagen Seb und ich beide auf dem Boden. Meine Augen fühlten sich wund und geschwollen an. Das Weinen hatte nicht geholfen – mir brummte der Kopf vor lauter Gedanken, die zu sehr schmerzten, um sich länger mit ihnen zu beschäftigen. Mittlerweile brannte nur noch eine Kerze, deren Flamme leise knisternd matt vor sich hin flackerte.
Seb hielt mich immer noch fest. Er war ebenfalls eingeschlafen. Ich starrte in dem trüben Licht auf sein schlafendes Gesicht, auf den Mund, den ich so leidenschaftlich geküsst hatte, und schweren Herzens wurde mir klar, dass er sich geirrt hatte. Heute Nacht war passiert. Und deswegen hatte die mir liebste und teuerste Freundschaft meines Lebens einen Riss bekommen. Seb würde nie wieder mein Bruder sein können.
Jetzt hatte ich nicht nur den Jungen, den ich liebte, verloren, sondern auch noch meinen besten Freund.
Am nächsten Morgen, als Seb und ich von der Metrostation nach Hause gingen, konnte ich hören, wie überall mit hellem Geklimper das Glas zusammengefegt wurde. Ladenbesitzer klebten Pappe vor kaputte Fenster, hier und da standen ausgebrannte Autos herum wie sonderbare Skulpturen. Aber kauflustige Passanten schlenderten wie üblich über die Bürgersteige und auf der Straße rauschten Autos und Taxis vorbei. Das Leben in Mexico City war bereits dabei, zur Normalität zurückzukehren oder zumindest zu dem, was hier im Schatten der Zweiten Welle dafür durchging.
Obwohl Seb und ich versuchten, genauso miteinander zu reden wie sonst auch, hing, seit wir morgens aufgewacht waren, das Unbehagen zwischen uns wie ein dichter Nebel. Als wir die Straße erreichten, in der das Haus lag, blieb Seb unvermittelt stehen und legte mir die Hand auf den Arm. »Willow, bitte … können wir nicht einfach vergessen, was passiert ist und wieder so sein wie vorher?« Seine braunen Augen waren wie tiefe Brunnen voller Sorge. »Wir haben uns geküsst, das war alles. Daran, was wir uns bedeuten, muss das nichts ändern, es sei denn, wir lassen es zu.«
Ich fröstelte und mied seinen Blick. Alles, woran ich denken konnte, war Alex. Ich hasste meine Hände, die meine Ellenbogen umklammerten, weil ich wusste, dass sie ihn verletzt hatten. Außer dass es nicht nur meine Hände waren, oder? Nein, ich war es, alles an mir, als sickerte ein tödliches Gift durch meine Adern. Jedes Mal wenn ich Alex’ Körper gestreichelt, jedes Mal wenn ich ihn geküsst hatte, hatte ich ihm geschadet.
»Ich werde es versuchen«, sagte ich zuletzt.
»Querida –«
»Nicht …« Ich sprach nicht weiter und verschloss die Augen ganz fest vor dem plötzlichen Schmerz, der mir das Herz abschnürte. »Nenn mich nicht so«, sagte ich.
»In Ordnung«, sagte Seb weich. Und ich wusste, dass er es diesmal ernst meinte und dass das unbefangene Geplänkel zwischen uns unwiederbringlich verschwunden war. Und obgleich ich mich zehnmal schlechter fühlte als zuvor, kam es mir auf eine absonderliche Art und Weise so vor, als hätte ich es nicht anders verdient.
Seb seufzte und rammte die Hände in die Hosentaschen, während wir uns wieder in Bewegung setzten. »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er müde. »Du bist der beste Mensch, den ich kenne – du hättest ihn doch nie im Leben angefasst, wenn es dir klar gewesen wäre.«
Selbst jetzt konnte er meine Gedanken mühelos lesen. Na und?,
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