Hueter der Daemmerung
setzte Raziel präzise mitten auf dem Hubschrauberlandeplatz des Gebäudes auf. Der Ausblick von hier oben war nicht besser als der während seines Flugs. Dennoch war es vergnüglich, sich zurückzuverwandeln und in menschlicher Gestalt mit hinter dem Rücken verschränkten Händen über die Stadt hinwegzublicken und dabei zu spüren, wie der Wind an seinen Haaren und an seiner Jacke zerrte. Er hatte eine Zeit lang darüber nachgegrübelt, was er tragen sollte. Auch ein ungebetener Gast wollte schließlich gut aussehen -und da dies entweder der letzte Tag seines Lebens oder sein erster Tag als neuer Herrscher werden würde, wollte seine Garderobe mit Bedacht gewählt sein. Schließlich hatte er sich für einen dunkelgrauen, fast schwarzen Anzug und ein Hemd in einem kräftigen Lila entschieden, dessen Kragen er offen ließ.
Als Raziel endlich Charmeines Signal auffing, war er des Ausblicks längst überdrüssig geworden und hatte angefangen, auf dem Hubschrauberlandeplatz auf und ab zu gehen. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er unmissverständlich spürte, wie ihre Energie ihn zu sich zog. »Na endlich«, murmelte er.
Er verwandelte sich in seine Engelsgestalt und glitt in den verglasten Teil des Gebäudes. Er und Charmeine wollten die Erschießungen von einem Nachbarzimmer aus verfolgen, um sie auch richtig zu genießen. So hatten sie es geplant. Obwohl der Tod der Zwölf zweifellos sehr schmerzhaft werden würde, falls er ihn denn überhaupt überlebte, sah Raziel ihm voll düsterer Vorfreude entgegen. Jeder Todesschmerz, der ihn durchzuckte, würde bedeuten, dass ein weiteres Mitglied der Zwölf verschwunden wäre.
Er segelte durch das VIP-Stockwerk und nahm den prächtigen Empfang in Augenschein: Kellner, die mit silbernen Tabletts umherglitten; ein geneigtes Glasdach; eine aufgeregte Menschenmenge. Einige Engel aus dem Gefolge der Zwölf waren auch da und nährten sich von Opfern, die sie anhimmelten. Raziel lächelte vor sich hin. Passt lieber auf, dass ihr nicht den Eindruck macht, euch zu gut zu amüsieren. Sonst setzt es was vom Konzil.
Er ließ sich von Charmeines Energie leiten und flog durch eine hohe weiße Wand.
Die Energie traf ihn mit voller Wucht. Fesseln, als hätte er sich in einem Dutzend unsichtbarer Netze verstrickt. Er fühlte sich wie eine Zeichentrickkatze, deren Pfoten im freien Fall panisch durch die Luft rotierten. Denn Charmeine war nicht allein im Zimmer: An einem langen Konferenztisch saß das Konzil.
»Raziel«, sagte Isda sanft. »Wie schön, dass du da bist. Wir hatten uns auf ein Wiedersehen in deiner Kathedrale gefreut, aber so ist es natürlich noch besser.«
Er versuchte sich zu befreien, aber die mentalen Schlingen des Konzils zogen sich mit jedem seiner Flügelschläge fester zusammen. Unter ihm bot eine gebrochene Charmeine ein Bild des Jammers. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid und ihr Gesicht war tränennass. Die Zwölf saßen in einer Reihe an einer Seite des langen Tisches, männliche und weibliche Engel im Wechsel, Isda in der Mitte. Sie alle starrten ihn unbewegt an, als wäre er nicht interessanter als eine gefangene Motte.
Er hing am Haken ihrer Energie, wie ein Fisch an der Angel. Und während sie langsam die Schnur einzogen, ergriff Baglis, ein weiteres Mitglied der Zwölf, das Wort: »Wir waren höchst überrascht zu erfahren, was du mit uns vorhast, Raziel. Allerdings scheint sich deine Freundin Charmeine bezüglich der Einzelheiten nicht ganz sicher zu sein. Vielleicht kannst du uns weiterhelfen.«
Sie hielten ihn ungefähr zwei Handbreit über dem Boden in der Schwebe, obwohl jeder einzelne Flügelschlag mittlerweile zur Qual für ihn geworden war. Sein Blick begegnete dem von Charmeine und sie antwortete mit einem beinahe unmerklichen Kopfschütteln. Also wusste das Konzil zwar von einer Verschwörung – tappte aber hinsichtlich des genauen Plans möglicherweise noch im Dunkeln.
Laut sagte er: »Ich weiß nicht, was ihr meint.« Dann schrie er auf, als ein Dutzend mentaler Peitschenhiebe sich in sein Bewusstsein brannten.
»Oh, wir glauben, das weißt du sehr gut«, sagte Isda. »Wie sich herausgestellt hat, ist Charmeine außerordentlich geschickt darin, Dinge zu verbergen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du dir deine Geheimnisse leichter entlocken lässt.«
Es klopfte. Vorsichtig wurde die Tür einen Spalt geöffnet und eine menschliche Assistentin streckte den Kopf ins Zimmer. »Entschuldigen Sie
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