Hueter der Daemmerung
Konzil und wechselte zurück in seinen menschlichen Körper. Charmeine tat es ihm gleich.
Die Zwölf sahen sich in keiner Weise ähnlich, dennoch wiesen sie gewisse Gemeinsamkeiten auf, dieselben ausdruckslosen Mienen vielleicht, oder dieselbe Körperhaltung. Sechs Männer und sechs Frauen, die seit Jahrtausenden die Belange der Engel regelten, länger als irgendjemand zurückdenken konnte. Nach dem, was Raziel gehört hatte, verabscheuten die meisten einander von ganzem Herzen. Doch sie waren viel zu eng miteinander verknüpft, sowohl in psychologischer, wie auch in politischer Hinsicht, um sich jetzt oder irgendwann noch trennen zu können.
»Willkommen in meiner Kathedrale«, sagte Raziel und neigte den Kopf. Es gelang ihm, den ironischen Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten, aber er wusste, dass sie ihn auf mentaler Ebene trotzdem spüren würden. Er gab sich keine besondere Mühe, ihn zu verbergen.
»Danke«, erwiderte Isda, die oft als Sprecherin der Zwölf auftrat. »Es ist uns eine Freude, hier zu sein.« Sie war groß und ihre Gesichtszüge wirkten gemeißelt wie die einer Statue. Ohne sichtbare Gefühlsregung ruhten ihre grauen Augen auf Raziel. »Sollen wir zunächst einmal die Unannehmlichkeiten hinter uns bringen?«
»Unbedingt«, sagte Raziel und versuchte, die leichte Beunruhigung zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. Von welchen Unannehmlichkeiten genau war hier die Rede? Ihm fiel auf, dass sich im Publikum außer den zu erwartenden Mitläufern auch all jene Erstauswanderer befanden, die mental mit dem Konzil Verbindung gehalten hatten. Er konnte spüren, dass sie vor Sorge bebten. Sie waren davon ausgegangen, dass Raziel fest im Sattel sitzen würde, bevor ihr Verrat ans Licht käme.
»Gut. Du und Charmeine, ihr dürft euch setzen«, sagte Isda und deutete mit dem Kopf auf eine Kirchenbank in der Nähe.
Dass ihm in seiner eigenen Kathedrale die Erlaubnis erteilt wurde, sich zu setzen, wurmte ihn. Schweigend kam er der Aufforderung nach. Charmeine setzte sich neben ihn und blickte stur geradeaus.
Isda und die restlichen Zwölf standen in einer Reihe mit dem Rücken zu den Kirchenbänken. Die hohen Buntglasfenster vor ihnen funkelten in der Sonne. Hier, genau hier, war erst vor wenigen Tagen die Zweite Welle eingetroffen. »Jetzt, bitte!«, rief Isda mit ihrer leisen Stimme.
Die Seitentüren öffneten sich und an die hundert Engel wurden im Gänsemarsch hereingeführt alle in ihrer menschlichen Form, die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Raziel saß kerzengerade da und sein Herzschlag beschleunigte sich, als er überrascht die verbliebenen Verräter erkannte: Die Engel, derer er sich mithilfe von Kylar hatte entledigen wollen. Obwohl sie ein bunt gemischtes Grüppchen waren, teilten alle Verräter die Überzeugung, dass die Engel nicht das Recht hatten, Menschen für ihre eigenen Zwecke zu benutzen, und engagierten sich für die Rettung der Menschheit, selbst wenn dies die Ausrottung ihrer eigenen Spezies bedeutete. Durch Zufall war Raziel vor über einem Jahr an ihre Namen gekommen. Ein Abtrünniger, der gefangen genommen worden war, hatte die anderen verraten, um seinen eigenen Hals zu retten. Raziel hatte ihn selbstverständlich trotzdem töten lassen. Dennoch war es auf jeden Fall eine sehr nützliche Begegnung gewesen.
Worin die »Unannehmlichkeiten« bestehen würden, war damit nur allzu klar. Das Konzil hatte die Identität der Abtrünnigen von Anfang an gekannt. Es war taktisch klug erschienen, die Informationen weiterzuleiten. Und sie würden wissen, dass nur ein Abtrünniger – in diesem Fall Nate – dem Halbengel bei dem Anschlag auf die Pforte geholfen haben konnte. Als Folge dessen waren die Abtrünnigen mit einem Schlag von einer Angelegenheit, die in aller Stille erledigt werden konnte, zu etwas geworden, das nach der Statuierung eines öffentlichen Exempels verlangte. Vermutlich war es dem Konzil nicht weiter schwergefallen, die Verräter zusammenzutreiben. Eine der unangenehmsten Eigenschaften des Konzils war seine psychische Macht, der man wohl oder übel gehorchte, ob man wollte oder nicht.
Raziel musterte die Verräter und fragte sich, warum sie sich in ihre gefesselten, menschlichen Körper sperren ließen. Mit einem mulmigen Gefühl wurde ihm klar, dass das Konzil auch damit etwas zu tun hatte. Auf einmal konnte er spüren, was ihm bislang entgangen war: ihr subtiles, fast unmerkliches Zusammenspiel, durch das sie die gefangenen Engel davon
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