Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
stellte er fest, dass es eher einer klischeebehafteten geschnitzten Figur aus einem Andenkenladen in einem Wallfahrtsort glich.
Die ersten zwei Stunden wurde er von dem Navigationssystem über die Autobahnen geleitet, bis er hinter Buonconvento auf eine Landstraße abbiegen musste. Jetzt endlich konnte er entspannen. Er war in Italien, fernab von allem, was ihn bedrängte. Hier gab es keine deutsche Polizei, keine Geheimgesellschaft und keine dem Konkurs verfallene Firma. Hier ließe es sich sicherlich gut leben , dachte er, doch zuvor gab es noch ein paar Dinge zu erledigen.
Die Straße schlängelte sich auf der acht Kilometer langen Bergstrecke von Buonconvento hin zu dem Kloster, in dem Montesi angeblich wohnte. Von ferne erblickte Richard einen hohen Turm, der sich wie eine Sonnenblume zur Sonne reckte. Der Glockenturm des Klosters. Es galt, auf eine Schotterpiste abzubiegen und der Beschilderung zu folgen. Mit jedem Meter, den er durch die herrlich grüne Landschaft der Toskana zurücklegte, entfernte er sich weiter vom Trubel der Menschen.
Er erreichte das Kloster mit dem idyllischen Namen »Abbazia Monte Oliveto Maggiore«. Es lag auf einer zarten Hochebene, und Richard befand sich inmitten von Olivenbäumen, Zypressen und blühenden Oleanderbäumen. Im Flugzeug hatte er in Ruhe den Reiseführer studiert, weil er nachempfinden wollte, was sein Vater in den drei Jahren, die er hier verbracht hatte, gefühlt haben mochte. Es hieß in der Beschreibung, dass sich Anfang des 14. Jahrhunderts der junge Sieneser Adlige Bernardo Tolomei in die einsame, zauberhafte Einöde zurückgezogen und die Benediktinerabtei gegründet hatte. In der im 15. Jahrhundert errichteten Kirche beschrieben Fresken von Luca Signorelli und Sodoma das Leben des heiligen Benedikt. Im Lauf der Jahre war die Anlage zu einem der größten und wichtigsten Klöster Italiens geworden. Ein Magnet für jeden Kunstliebhaber.
Schneider stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und musste zu Fuß weitergehen. Er ging eine etwa 300 Meter lange Zypressenallee entlang und gelangte zum Klosterkomplex, wo er die Tür zu einem kleinen Büro fand, das eigens für Touristen eingerichtet worden war. Neben dem Büro bemerkte er einen Laden, in dem Erzeugnisse des Klosters verkauft wurden, angefangen bei diversen Kräuterlikören, über Sambuca und eine ganze Reihe pflanzlicher Heiltropfen. Laut der Beschilderung beherbergte das Kloster außerdem eine Werkstatt für die Restauration von Pergamenten und alten Büchern, die allerdings nur Wissenschaftlern zur Verfügung stand.
Es war für die hier lebenden Brüder keineswegs ungewöhnlich, Besuch zu bekommen. Die Tatsache, dass jedermann hier vorbeischauen konnte, gelangweilte Touristen mit weißen Schlapphüten auf den Köpfen, kurzen Hosen und Fotoapparaten vor dem Bauch, raubte Schneider die Illusion, in wenigen Minuten einen eremitengleichen Mann zu treffen, den er für einen würdevollen Geheimnisträger hielt.
Richard betrat das Büro und fand hinter einem Schreibtisch einen jungen Mönch vor, der mit einer hellen Kutte bekleidet war. Lächelnd wartete er auf Schneiders Anliegen. Schneiders Italienischkenntnisse waren nicht schlecht, und er konnte sich mühelos nach Francesco Montesi erkundigen. Das freundliche Antlitz des Mönches verfinsterte sich, als er hörte, dass Schneiders Interesse nicht dem Kloster, sondern dem alten Mann galt. Nein, er wohne nicht mehr im Kloster, schon lange nicht mehr, sondern in einem alten Steinhaus, dass sich einige hundert Meter abseits der Klostermauern befinde. Schneider zog das Jackett aus, und zwei große Schwitzflecken auf Brust und Rücken zeichneten sich ab. Der Mann Gottes erhob sich von seinem Holzstuhl, verließ mit Schneider das Büro und erklärte ihm den Weg, den er zu gehen habe.
Richard bedankte sich irritiert und schlug die beschriebene Richtung ein. Nach zehn Minuten erblickte er ein altes Steinhaus. Er verlangsamte seine Schritte, da niemand zu sehen war. Unsicher schlich er auf dem Grundstück herum und entdeckte einen alten Mann, der nicht im Geringsten dem Fantasiebild entsprach, das sich Schneider von ihm gemacht hatte. Der Alte war klein und ging gebückt. Er hatte eine Kutte an, die unansehnlich und verschlissen wirkte. Ein fast kahlköpfiger Mann, der zwischen knochigen Olivenbäumen stand und sich mühte, Früchte vom Baum abzuzupfen. Die einzige Übereinstimmung mit seiner Vorstellung fand Richard darin, dass Montesi braun
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