Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
der Jesus erstochen wurde.«
»Sie begreifen nichts, junger Mann. Jesus wurde mit der Lanze nicht erstochen. Durch diesen Stich wurde eine uralte Prophezeiung an ihm erfüllt. Es geschah, was geschehen musste, damit Gottes Souveränität offenbar wurde.« Montesi wandte sich von Schneider ab und steuerte auf seine Bäume zu. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind umsonst gekommen.« Montesi winkte mit einer abweisenden Geste, die unmissverständlich war.
Schneider ging hinter ihm her und packte ihn an der knochigen Schulter. »Augenblick mal, nicht so schnell, alter Mann.« Seine Stimme klang hart und kalt.
Trauer breitete sich in Montesis Gesicht aus. »Ihr Vater war ein guter Mensch. Sie sind nicht wie er! Er war verzweifelt und ohne Hoffnung, aber er hatte ein gutes Herz. Sie hingegen führen Böses im Schilde. Ich kann und werde Ihnen nicht helfen. Gehen Sie jetzt.«
Schneider packte den Alten an der Kutte und riss ihm den Ärmel an der Schulter auf. Montesi drehte den Kopf und eine erstaunliche Autorität lag in seiner Stimme. »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich muss beten.«
Richard spürte, dass Montesi ihm etwas verheimlichte, und war nicht gewillt, unverrichteter Dinge abzuziehen. Vor allem wurde ihm das ganze Elend seiner vertrackten Situation erneut bewusst. Der Konkurs seiner Firma, die merkwürdige Bruderschaft, die gedroht hatte, ihn nicht aus den Augen zu lassen, und die Tatsache, dass er längst die Polizei im Nacken hatte. Darüber hinaus lag in seinem Safe eine Lanze, die nicht die wahre Macht besaß – und nun stellte sich ihm auch noch dieser sture alte Mann in den Weg.
Schneider stemmte die Arme in die Seiten. »Glauben Sie, ich habe mich auf diese lange Reise gemacht und Sie in dieser Einöde aufgespürt, um ohne die Lanze wieder zurückzufahren. Sie sagen mir jetzt auf der Stelle, was es mit der echten Lanze auf sich hat, oder …«
»Oder was?«, entgegnete Montesi mit ruhiger, warmer Stimme. »Was wollen Sie mit mir tun? Mich umbringen?« Montesi lachte laut auf. »Ich lebe eh nicht mehr lange. Machen Sie ruhig. Ich wäre glücklich, bei meinem Herrn zu sein.«
Schneider ballte die Fäuste. »Hören Sie, es sind ein paar Leute hinter mir her, und ich bin nicht gewillt, ihnen ohne die Lanze entgegenzutreten. Geben Sie mir jetzt sofort die Lanze, verdammt noch mal! Ich habe bis jetzt noch alles bekommen, was ich wollte.«
»Dann muss ich Sie eben diesmal enttäuschen. Ich kann und will Ihnen nicht helfen, auch wenn Karl mein Freund war. Es gibt höhere Verpflichtungen im Leben als Freundschaft.«
Schneider stand mit geballten Fäusten vor Montesi. Etwas schien ihn davon abzuhalten, den Alten zu schlagen, obgleich er erst vor kurzem einen Menschen ermordet hatte. Er suchte fieberhaft nach einer Lösung, doch Montesi wirkte unerschütterlich. Richard stampfte unruhig auf dem staubigen Boden auf und stemmte die Hände in die Seite. Er sah zu dem Haus hinüber. »Wohnen Sie hier?«
Montesi sah Schneider an, ohne zu nicken.
»Ich werte Ihr Schweigen als ein Ja. Klar, wo sollten Sie auch sonst leben in dieser Einöde.« Schneider eilte auf die geöffnete Tür des kleinen Hauses zu, in dessen Zarge dicht aneinandergereihte bunte Streifen hingen, die sich sanft im Wind bewegten und den Mücken und Fliegen das Eindringen erschwerten. Er näherte sich den Streifen, packte sie mit einer Faust und riss sie herunter. Montesi sah ungerührt zu.
Wie ein an Tollwut erkrankter Köter stürmte Schneider in das Haus. Montesi hörte, wie Töpfe schepperten und Gläser zerbrachen. Der Eindringling wühlte planlos alles durch. Er zog die Schubladen und Schranktüren auf, auch dann, wenn klar erkennbar war, dass man dort kaum eine alte Lanze aufbewahren würde. Er tat es aus blinder Wut und Hass. In weniger als zehn Minuten hatte Richard das ganze Haus auf den Kopf gestellt und rannte schnaubend mit hochrotem Gesicht hinaus. Montesi war unterdessen in Richtung seines kleinen Olivenhains gegangen. Der Boden war hier felsig und trocken und bot die geeignete Beschaffenheit für Olivenbäume. Erneut pflückte er die grünen Früchte ab.
Schneider rannte ihm nach und stolperte über einen großen Stein. Er fluchte und baute sich vor Montesi auf, wirkte in seinem feinen Zwirn, der in dieser Umgebung unpassend erschien, eher lächerlich. Nicht nur sein Aussehen passte nicht zu diesem Ort des Friedens. Montesi blickte ihn mit einem Empfinden des Mitleids an, das regte Schneider
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