Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
einen unwegsamen Pfad begeben, von dem er nicht wusste, wo er endete? Was trieb ihn an? Wollte er seinem Vater beweisen, dass er es schaffen konnte, die Lanze an sich zu bringen? Wäre er glücklicher, wenn er noch mehr Macht bekam? Ganz sicher!
Diese und viele ähnliche Gedanken plagten ihn während des langen Fluges. Doch eines wusste er genau! Ein Kunstobjekt ist nur dann wertvoll, wenn es echt, wenn es authentisch ist, wenn es Spuren des Lebens in sich trägt. Wie ein Ölgemälde, an dem der Künstler mit Inbrunst gearbeitet hat, ein Künstler, der sich nicht eher Ruhe gönnt, bevor sein Werk vollendet wird. Der Höhen und Tiefen der Freude und der Verzweiflung durchlebt, um das zum Ausdruck zu bringen, was in ihm vorgeht. Die Nachwelt soll Anteil an diesem Schaffensprozess haben, damit er, der Künstler, auf ewig in seinem Werk weiterlebt. Das war es, was ihn antrieb, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die Sehnsucht nach dem, was bleibt.
Die Lanze aus Wien hatte für Schneider zu Beginn der ganzen Geschichte noch diesen Geschmack des Lebens besessen. Es hieß, dass darin Spuren des Nagels vom Kreuz Christi eingearbeitet worden seien. Und das bedeutete: Auch wenn die Lanze nur eine karolingische Kopie war, hatte sie durch die Essenz des Kreuzesnagels Anteil an der ursprünglichen Kraft. Doch: Was war Essenz gegen das Original, die Urtinktur? Die entscheidende Frage lautete: was wäre, wenn sich die echte Lanze noch finden ließe?
Soll diese bescheuerte germanische Organisation die falsche Lanze doch bekommen, dachte Schneider. Er träumte von einer sechs- bis siebenstelligen Summe, die er für die Lanze von »THE Lu« bekommen würde. Kein schlechtes Geschäft angesichts der Tatsache, dass der Raub so schnell über die Bühne gegangen war. Er vergaß geflissentlich, dass man ihn für die Morde zur Rechenschaft ziehen würde.
Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und breitete die Tageszeitung vor sich aus. Sein Nachbar musste zur Seite rücken, um genug Platz für seine Literatur zu behalten. Schneider hatte bereits in drei Publikationen Artikel über den spektakulären Lanzenraub in Wien gelesen. Von Kaltblütigkeit berichteten die einen, von Dummheit und Unprofessionalität die anderen. Als Gipfel empfand er den Artikel in der »Welt«, den er vor sich hielt. Dort hieß es: »Der Täter hatte mehr Glück als Verstand, weil er zu einer Tageszeit in die Schatzkammer der Wiener Hofburg eindrang, in der der Zugang für Besucher des Museums noch gewährleistet war.« Der Autor sprach von »Stümperhaftigkeit und falscher Organisation«. Ein Bild des getöteten Wachmanns und eins von Bukowski waren ebenfalls zu sehen. Bukowski, ein am Boden liegender, fettleibiger Mann, der wie der Wachmann des Museums durch einen Lanzenstich ums Leben gekommen war. Daneben war noch ein weiteres Bild zu sehen – und das kam Richard bekannt vor. Es war ein Phantombild von ihm, das nach Raphaelas Angaben gezeichnet worden war. Es schmeichelte ihm nicht, er sah dort viel älter, viel kahlköpfiger und viel brutaler aus, als er sich selbst empfand. Vor allem war ihm das Bild nicht ähnlich – und das freute ihn am meisten.
Schneider las den Artikel aus der »Welt« ungerührt. Am Tag nach dem Raub war in vielen Zeitungen darüber berichtet worden, dieser Artikel fasste alle bisherigen Erkenntnisse noch einmal zusammen. Richard grinste, als er die Zeichnung betrachtete. Wie sollte man ihm mit auf die Spur kommen? Mit diesem lächerlichen Phantombild gewiss nicht. Seine Unprofessionalität ließ die Polizei stutzen, und das war gut so. Die Mordwaffe lag verstaut in seinem Safe, der Wagen war unter dem Namen H. Himmler gemietet worden, und eine Strafkartei besaß er bisher nicht. Er war ein unbeschriebenes Blatt. Nein, Sorgen musste er sich nicht machen.
Eine Weile registrierte sein Sitznachbar, wie lange sich Schneiders Blick an diesen Artikel heftete. »Finden Sie, dass er gut geschrieben ist?«, fragte er.
Schneider vermied es, dem Mann direkt in die Augen zu blicken. »Gut geschrieben? Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Ich meine sprachlich. Spricht er Sie an?«
Jetzt sah Schneider seinen Nachbarn an. Es war ein jüngerer, gut aussehender Mann mit schütterem Haar. Schneider bemerkte erstaunt, dass der Typ eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatte. Dessen Gesichtszüge waren zwar glatter und faltenfreier als seine, ansonsten hätte der andere sein jüngerer Bruder sein können. Noch fragend schaute der Mann Schneider an
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