Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
Ereignisse leicht beunruhigend sind.“
Ein großer, hagerer Mann war mit schnellen Schritten hinter ihnen durch das Tor getreten und ging nun neben Sophia her. Seine Hemdsärmel bauschten sich, er trug eine bestickte Weste, und aus seiner Hosentasche baumelte die goldene Kette einer Taschenuhr. Sein dunkles Haar war an den Schläfen von silbergrauen Strähnen durchzogen. Zudem hatte er einen Zylinder auf dem Kopf. Emily bemerkte, dass er seinen linken Arm festhielt, als würde er schmerzen. Darunter hatte er einen Gehstock geklemmt.
„In der Tat, Sophia, in der Tat“, sagte er etwas abwesend und sah dabei alles andere als zufrieden aus.
„Übrigens, das ist meine Großnichte Emily“, stellte Sophia sie vor. „Und das ist Archibald, einer der Buchbinder“, fügte sie an Emily gewandt hinzu. „Für dich Mr. Shaddock.“
Mäßig interessiert warf Mr. Shaddock Emily einen Blick zu.
„Erfreut, erfreut“, murmelte er. „Und herzlich willkommen in Arcanastra.“
Er beschleunigte seine Schritte wieder. Ein seltsamer Mensch, fand Emily.
Innerhalb der Mauer erstreckten sich mehrere große steinerne Gebäude, die um einen gigantischen Turm gruppiert waren. Sie hatten hohe, schmale Spitzbogenfenster. Vor den Gebäuden gab es parkähnliche Wiesenflächen, die von schmalen Wegen durchschnitten wurden. Der Ort erinnerte Emily an eine alte Universität.
Sie folgte Sophia, die eines der Gebäude betrat. Auch in seinem Innern kam Emily sich vor wie in einem Labyrinth. Es musste Dutzende von Korridoren, Sälen und Atrien geben, in denen sich ein Unkundiger schon nach wenigen Metern verirrt hätte, doch Sophia schritt zielstrebig hindurch. Nach einer halben Ewigkeit gelangten sie in einen Kreuzgang, der zu einem großen Innenhof hin offen war. Dieser war von einer filigranen Metallkuppel überdeckt, und ein richtiger Wald wuchs in ihm. Die Zweige der Bäume ragten bis in den Bogengang hinein.
Es war ein seltsames Gefühl, aus dem Gebäude zu kommen und direkt in einem Wald zu landen. Emily sah sich um. Die silbernen Blätter der Bäume glitzerten und funkelten, als wären sie mit Schnee und Eis bedeckt. Ein stetes Murmeln und Flüstern war zu hören. Erst nach einer Weile begriff Emily überrascht, dass es von den Blättern kam, die ein dichtes Dach bildeten. Nur vereinzelt fielen einige Mondstrahlen schräg hindurch. Den Boden des Waldes bedeckten kleinere Pflanzen und weiches Moos, und es gab mehrere schmale gepflasterte Pfade. Auf einem davon führte Sophia Emily bis zu dem riesigen Turm in der Mitte des Waldes, der die Kuppel durchbrach und hoch in den Himmel ragte. Ein Tor war in die Mauer eingelassen, und unheimliche steinerne Wesen bildeten einen Rahmen darum. Emily entdeckte Drachenköpfe, Schlangen und Skorpione. Aufgeregt trat sie hinter ihrer Großtante durch das Tor in die Bibliothek von Arcanastra.
Diese Bibliothek war das Überwältigendste, was Emily jemals gesehen hatte. In den steinernen Boden waren fantastische Mosaike eingefügt. An der Außenmauer entlang liefen Dutzende von Emporen. Sie waren aus glänzendem dunklem Holz gefertigt und mit Schnitzereien verziert, manche davon vergoldet. Die obersten davon konnte Emily kaum noch erkennen. Auf den Emporen standen Regale mit Tausenden von Büchern. Kronleuchter mit Kerzen baumelten auf der Höhe jeder Empore von der Decke, und hoch oben hing etwas, das aussah wie eine riesige Uhr mit merkwürdigen Symbolen und einer Unzahl verschiedener Zeiger. Viele Bibliothekare waren hier bei der Arbeit, trotz der späten Stunde. Sie legten Bücher in kleine, hölzerne Paternoster, die sich unentwegt im Kreis bewegten und bis unter die Decke reichten. Auf den Emporen nahmen andere Bibliothekare die Bücher aus dem Aufzug und ordneten sie in die Regale ein.
Im Gegensatz zur Außenmauer war das Innere des Turms ein einziges Durcheinander, ein Gewirr aus Wendeltreppen, Paternoster-Aufzügen für Menschen, dämmrigen Korridoren mit Gemälden an den Wänden und winzigen Fenstern, Bögen aus kunstvoll behauenem Stein und geschnitztem Holz, Zwischenetagen und kleineren Räumen, die wie Kapellen wirkten und durch schwindelerregende Treppen miteinander verbunden waren, und überall gab es Kerzenleuchter und Millionen von Büchern. Die Luft roch nach Leder, Staub und altem Papier. Der Turm war so gewaltig, dass er eine kleine Stadt für sich war. Man hätte tagelang darin umherlaufen können, ohne den Ausgang wieder zu finden.
Sophia lächelte, als sie sah, wie
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