Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
unangenehmer Gedanke.
Der Korridor führte um einige Ecken, manchmal ging es ein paar Stufen hinunter und manchmal nach oben. Nach kurzer Zeit hätte Emily nicht mehr sagen können, wo sie sich befand. Glücklicherweise gab es keine Abzweigungen, so konnte sie sich nicht verirren. Als sie einige Minuten lang gelaufen war, sah sie endlich einen hellen Schein vor sich, und der Korridor endete in einem Zimmer. Emily schaute sich darin um. An den Wänden waren einige brennende Kerzen befestigt, auf einem Tisch lagen ein Buch, ein Tintenfässchen und eine Schreibfeder, und in der Mitte des Raumes befand sich eine große Mechanik.
Emily betrachtete sie von allen Seiten. Obwohl es hier keine Sessel gab, war sie sich bald ziemlich sicher, dass die Mechanik ein Panoptikum war. Jedenfalls sah sie genau so aus wie diejenige bei Mr. Peeble. Aber weshalb war sie in diesem Raum versteckt?
Dann entdeckte Emily ein zusammengeknülltes Stück Papier, das in einer Ecke am Boden lag. Als sie es aufhob und glatt strich, sah sie, dass darauf ein Name geschrieben war: Anastasia Orlow .
Emily überlegte eine Weile. Dann spannte sie das Blatt so in die Mechanik ein, wie Mr. Peeble es in seinem Panoptikum mit dem Buch getan hatte. Glücklicherweise hatte sie ihm dabei genau zugesehen. Sie konnte sich auch noch erinnern, welche Knöpfe und Hebel er betätigt hatte.
In einem silbernen Wirbel stiegen die Buchstaben des Namens empor und formten sich zu einem Bild… dem Bild eines Wohnzimmers. Nachdenklich betrachtete Emily es. Was hatte das zu bedeuten?
Sie zog den Zettel mit dem Namen wieder aus der Mechanik. Dann trat sie zum Tisch in der Ecke. Sie hob das Buch hoch und blätterte durch die Seiten… sie waren alle leer. Dafür waren einige von ihnen herausgerissen worden. Auch der Zettel mit dem Namen Anastasia Orlow schien aus diesem Buch zu stammen.
Emily riss eine weitere Seite heraus und trennte ein Stück davon ab. Mit der Schreibfeder und der Tinte schrieb sie ihren eigenen Namen darauf. Anschließend spannte sie das Blatt Papier erneut in die Mechanik ein.
Wieder stiegen die Buchstaben empor, und diesmal zeigte das Bild den Raum, in dem Emily gerade stand, den verborgenen Raum mit dem Panoptikum in der Mitte.
Emily dachte nach. Wenn man also den Namen einer Person aufschrieb, zeigte das Panoptikum, was diese Person gerade sah. Damit konnte man auch herausfinden, wo diese Person sich befand…
Sie trennte noch ein Stück der herausgerissenen Buchseite ab und schrieb Geist darauf. Als sie den Zettel einspannte, hielt sie den Atem an… doch diesmal geschah nichts. Die Buchstaben blieben auf dem Papier haften.
Wahrscheinlich musste man einen wirklichen Namen aufschreiben, um den Aufenthaltsort einer Person sehen zu können, dachte Emily.
Von dem entführten Jungen kannte sie den Namen…
Sie schrieb Linus auf ein weiteres Stück Papier. Aufgeregt schaute sie den aufsteigenden Buchstaben zu, die sich allmählich zu einem Bild formten. Emily sah einen düsteren Raum mit Wänden aus bröckligen Steinen. In einer Ecke stand ein unbequem aussehendes Bett, und durch eine geöffnete Luke in der Decke fiel Tageslicht. Hinter der Luke konnte Emily einige Baumkronen entdecken. Der Raum musste sich also irgendwo im Moor oder in einem Wald unter der Erde befinden. Sie seufzte. Sobald die Luke geschlossen war, würde man den Raum niemals finden können. Dann schaute sie genauer hin. Auf einem Tisch standen Geschirr und eine blank polierte Kanne, und in dieser Kanne spiegelte sich jemand… eine gefesselte und angekettete Gestalt… das musste Linus sein. Er sah schrecklich aus. Seine Haare waren zerzaust und seine Kleider schmutzig. Voller Mitleid starrte Emily auf den Jungen.
Dann fiel ihr etwas anderes ein. Jetzt schrieb sie Archibald Shaddock auf einen Zettel. Einen Augenblick später seufzte sie enttäuscht. Ganz deutlich erschien das Bild einer schneebedeckten Straße in Arcanastra. Wenn bei Linus und Shaddock derselbe Ort erschienen wäre, hätte Emily den Beweis dafür gehabt, dass Shaddock bei Linus war. Dass er sein Entführer war.
Emily fiel kein Name mehr ein, den sie aufschreiben konnte, um mehr herauszufinden. Also steckte sie die Zettel ein und ging durch den Korridor zurück in den Raum der Bibliothekare. Dort schob sie das Regal vor die Öffnung in der Wand zurück und machte sich auf den Weg nach Hause.
„Es gibt zehn Panoptiken“, erklärte Miki, als Emily ihren Freunden von ihrer Entdeckung erzählt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher