Hüttengaudi
Herbststurm rattern, und sehr bald schon würde der Schnee kommen.
Jedes Jahr graute es Irmi mehr vor dem November. Dem lichtlosen Monat. Über dem Schnee war dann wieder Helligkeit, doch bis dahin wurde die Zeit immer bleierner. Auch das war wohl eine Frage des Älterwerdens, dass man den Herbst als so bedrückend empfand.
»Wow«, sagte Kathi nochmals. »Was ist denn das für eine geile Architektur?«
»Das war mal das englische Schloss. Zumindest haben es die Einheimischen so genannt. Eine gewisse Mary Isabel Portman aus London, eine reiche englische Aristokratin, hat es bauen lassen. Sie war erst sechsunddreißig, als sie – ich glaub es war 1913 – den Kaufvertrag unterzeichnet hat. Sie war für die damalige Zeit eine sehr unabhängige Lady. Hat in Leipzig Musik studiert, hatte jede Menge Freunde aus der Kunstszene und hat ein paar englische Architekten ein Country House wie in Schottland oder Irland bauen lassen mit Konzertsaal und Rasentennisplatz. Dann kam der Erste Weltkrieg. Ich glaube, Mary Portman hat das Haus selber nie gesehen.«
»Das ist aber traurig! Woher weißt du das? Ich glaube kaum, dass unser Gehalt für Kranzbach-Urlaube reicht?« Kathi lachte hell.
»Ich war hier mal essen.« Das klang viel zu wehmütig, und Kathi sprang auch gleich drauf an.
»Ha, klar, mit deinem Lover. Na, der hat zumindest Geschmack.«
Hatte er? Hätte er sich da nicht eine jüngere und hübschere genommen? Irmi verscheuchte die Gedanken an ihn und fuhr fort: »Ende der Zwanziger wurde hier der Ganghofer-Roman ›Das Schweigen im Walde‹ verfilmt. Dann wurde es ein Erholungsheim der evangelischen Kirche im Ruhrpott und im Zweiten Weltkrieg Zielort der Kinderlandverschickung. Irgendwann wurde es ein Hotel. So wie jetzt.«
Mittlerweile waren sie an der Rezeption, wo sie freundlich begrüßt wurden. Ausnahmsweise hatte Irmi nicht das bedrückende Gefühl, das Nobelhotels sonst in ihr auslösten. Die Freude und Herzlichkeit war vollkommen ungekünstelt. Die Frage, ob Herr Zwetkow da sei, wurde bejaht, und die Gegenfrage, wen die Rezeptionsdame bei ihm melden solle, umschiffte Irmi elegant, indem sie sagte: »Es genügt, wenn Sie dem Gast zwei Damen melden.«
Irmi und Kathi wurden freundlich eingeladen, so lange auf der Terrasse zu warten. Dort war es geschützt und noch warm genug. Das Kranzbach verfügte über mehrere Terrassen, die Schiffsdecks über dem Gartenmeer ähnelten. Ohne einen Bruder daheim, der auf ihre Mithilfe angewiesen war, und mit anderem Gehalt hätte sich Irmi gern vier oder mehr Wochen am Stück eingemietet. Hier konnte man wahrscheinlich sogar den November gut überleben. Irmi hatte das Gefühl, als würde sie dieser Ort beruhigen und gleichzeitig beleben. Und sie beschloss, tatsächlich wieder herzukommen. Wenigstens für ein Wochenende.
Sie bestellten sich ein Mineralwasser und warteten. Nach etwa zehn Minuten wurde ein großer, schlanker Mann an ihren Tisch geleitet. Er war auf eine ganz eigene Weise attraktiv: hohe Stirn, schmale Nase, ein kleines Oberlippenbärtchen, das Irmi normalerweise abscheulich gefunden hätte, doch ihm stand es. Irgendwie sah er russisch aus, obgleich Irmi nicht sagen konnte, woran sie das festmachte. Und er strahlte eine ungeheure Präsenz und Souveränität aus.
»Titus Zwetkow, die Damen wollten mich sprechen?«
Er sprach Deutsch fast akzentfrei. Dieser Mann konnte definitiv mehrere Weltsprachen.
»Irmgard Mangold und Katharina Reindl von der Kripo in Garmisch. Vielen Dank, dass wir Sie so überfallen durften.« Irmi stellte sich nur sehr selten mit dem vollen Vornamen vor, aber in dem Fall schien ihr das angebracht. »Herr Zwetkow, Sie interessieren sich für die Franzhütte am Hausberg?«
»Ist das relevant für die Polizei?«
»Ja, weil ich Sie als Zeuge in Zusammenhang mit einem Mord befragen möchte. Wenn Ihnen das hier unangenehm ist, können Sie gerne morgen mit einem Anwalt bei uns vorbeikommen.«
Er machte eine Handbewegung, die sie als Einladung interpretierte, weiterzusprechen.
»Sie kennen Herrn Maurer?«
»Sicher, das ist doch dieser Makler.«
»Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt mit ihm?«
»Am Freitagmorgen haben wir telefoniert. Er sagte, er habe geschäftlich in Vorarlberg zu tun, und wollte sich Anfang dieser Woche melden.«
Wenn dieser Zwetkow nicht log, dann hatte Martin tatsächlich vorgehabt, nach Oberstaufen zu fahren und seine anderen Geschäfte abzuwickeln. Das alles deutete nicht auf einen Selbstmord hin. Doch dann
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