Huff, Tanya
Wagenschlüssel wieder in die
Zündung gesteckt hatte, um die Rückfahrt anzutreten.
Vicki war aus dem Wagen gesprungen, kaum daß Henry geparkt
hatte und pumpte heftig frische Luft in ihre Lungen, Luft, die nicht durch den
Atem eines anderen Vampirs verpestet worden war. Wenn es hart auf hart kam,
entschied sie bei sich und schob sich den Riemen der Umhängetasche über die
Schulter, dann würde sie lieber zu Fuß gehen, als sich von Henry zurückfahren
zu lassen! Noch besser: Sie würde nie wieder in ein Auto steigen, wenn er am
Steuer saß! Der Typ fuhr tatsächlich langsam, wenn eine Ampel auf Gelb sprang,
er überholte nicht, wenn sich die Gelegenheit bot und nahm jede Kurve
unendlich langsam und bedächtig. Vicki hatte soeben die frustrierendsten
fünfzig Minuten ihres Lebens verbracht, und nur eiserne Selbstbeherrschung
hatte verhindert, daß sie den Freund hinter dem Steuer vorgezerrt und sich
selbst dahinter gesetzt hatte. Ich muß mir unbedingt wieder einen Führerschein
besorgen. Mit dünnen, zusammengepreßten Lippen eilte sie auf das Klinikgebäude
zu. „Bitte, Vicki", rief Henry ihr nach, „vergiß nicht: Es ist besser, gar
nicht erst gesehen zu werden, als hinterher den Eindruck korrigieren zu
müssen, man sei gefährlich!"
„Mein Gott, Henry, du hörst dich an wie eine alte Folge
von Kung Fu."
Henry verriegelte die Wagentüren und hastete Vicki
hinterher. „Ich spreche aus Erfahrung..."
„Ich weiß, ich weiß: mehr als 450 Jahre. Kein Wunder auch,
daß du fährst wie eine alte Frau!" fügte sie leise hinzu, während sie die
Kliniktür aufriß, die aus einem einzigen soliden Stück Zedernholz gefertigt
war.
Im Haus trafen ein halbes Dutzend miteinander im
Wettstreit liegender Gerüche Vicki wie ein Schlag und hätten sie um ein Haar
gleich wieder rückwärts aus der Tür befördert - ein Rosenstrauß duftete in
einer Glasvase; ein Raumspray sollte die Meeresbrise ersetzen, die von hermetisch
abgedichteten Fenstern ausgesperrt wurde und über allem, unter allem, mit allem
vermischt hing der Duft des Eau Desinfektion, das jede medizinische Einrichtung
der Welt nun einmal zu tragen pflegt.
Vicki vermochte ein gutes Dutzend Leben zu spüren, die
alle schliefen, was die Trennlinien zwischen ihnen verwischte und eine klare
Unterscheidung schwermachte. Ob der Schlaf ein natürlicher war oder mit Drogen
unterstützt wurde, hätte Vicki nicht sagen können; dazu fehlte es ihr an
Erfahrung. Irgendwo in dieser Mischung von Leben meinte sie, den
unverwechselbaren Geschmack von Mikes Existenz zu spüren. Aber
warum kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen1. Sie hatte
so genau gewußt, daß sie würde sagen können, ob er sich in der Klinik befand
oder nicht, daß sie diese plötzliche Unentschiedenheit als ungeheuer verunsichernd
empfand. Glaube ich, daß er hier ist, weil ich es so gerne möchte? Wenn ich mir
gestern nicht mit Henry diesen horizontalen Tanz auf der Straße der Erinnerung
geleistet hätte - könnte ich dann ganz sicher merken, ob Mike hier ist oder
nicht? Aber rasch fand sie auf all diese Fragen eine Antwort, mit der sie leben
konnte: Verdammt noch mal, Vicki, stell dich nicht so dämlich an!
Die Verzweiflung, die über allem hier hing - eine
Verzweiflung, in der, wie Vicki feststellen konnte, trotz des Namens der Klinik
wenig Hoffnung mitschwang - machte es schwer, sich auf einzelne Leben zu
konzentrieren. Das schloß auch Henry mit ein, und so beschloß Vicki lakonisch,
daß alle Dinge nun einmal auch ihre guten Seiten haben und man die schlechten
Seiten dann einfach in Kauf nehmen muß.
Eine einzige nicht schlafende Person gab es hier, und die
starrte die beiden Besucher durch die dicken Glaswände der Schwesternstation
hindurch fragend an.
„Wie recht ich doch hatte!" murmelte Henry. „Schon
hat man uns bemerkt."
„Prima!" erklärte Vicki ein wenig zu forsch. Seit sie
denken konnte, hatten Frauen in Schwesterntracht sie verunsichert. Sie fühlte
sich in ihrer Gegenwart minderwertig - was daran liegen mochte, daß die Frauen
selbst immer so ungeheuer kompetent wirkten. Vielleicht lag es aber auch an all
dem Weiß, das sie umgab - Vicki vermochte es wirklich nicht zu sagen. Sie wußte
nur, daß sie sich mit einem Mal nicht mehr ganz so sehr wie eine allmächtige
Gestalt der Nacht fühlte, sondern eher wie jemand, der in ein Gebäude
eingedrungen ist, in dem er eigentlich gar nichts zu suchen hat. Resolut
straffte sie die Schultern, durchquerte schnurstracks die Eingangshalle
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