Huff, Tanya
Der hat bis Mitternacht offen."
„Tiefkühlsachen?" fragte Vicki ungläubig.
„Nicht für dich!" Kichernd schloß Tony die Tür hinter
sich.
Vicki versuchte, die Vorstellung von Blutkonserven -
sauber beschriftet, aufgestapelt und tiefgefroren - wieder loszuwerden und
kehrte zum Fenster und zum Blick auf die Stadt zurück. Zum Blick über Henrys Revier.
„Gut." Mike lehnte sich mit der linken Hüfte gegen
die Sofalehne. „Was hast du dem Jungen da für einen Honig ums Maul
geschmiert?"
„Wie meinst du das?"
„Vicki, ich bin's! Du kannst den Scheiß lassen."
Ohne sich umzudrehen zuckte Vicki die Achseln. „Wir
brauchen ihn. Tony kennt die Stadt. Er weiß mehr als wir."
„Ja und?"
,,Vielleicht wollte ich ihn nicht auch noch verlieren.
Henry ist so ..."
„Anders?"
„Nein. Er hat sich nicht verändert, ich bin anders. Ich
weiß noch, was ich einmal für ihn empfand - das ist alles noch da, aber ich
komme nicht dran. Freund, Geliebter, das sind nur Worte. Wenn ich ihn sehe,
haben sie keine Bedeutung. Henry hatte recht. Er hatte recht, und ich hatte
unrecht, und was noch erschwerend hinzukommt..." Ihre Worte klangen wieder
vertraut, entschieden. „Was erschwerend hinzukommt: Ich hasse nichts so sehr,
wie unrecht zu haben."
Celluci strich sanft über das Loch, das Vicki in das Leder
der Couch gerissen hatte und beschloß, seine Unterhaltung mit Henry nicht zu erwähnen.
Die Sonnenbrille schützte Henry vor dem blendenden
Scheinwerferlicht entgegenkommender Wagen, und doch war er froh, endlich in
die zur Hütte führende Staubstraße einbiegen zu können, denn die Lichter hatten
ihn durchaus irritiert. Er warf die Brille auf den Beifahrersitz, lockerte die
Schultern und lehnte sich zurück. Nachdem bei einem besonders heimtückischen
Schlagloch die Ölwanne seines Wagens auf einem hervorspringenden Stein
aufgesetzt hatte, drosselte er auch seine Geschwindigkeit.
Henry hatte den 1976er BMW als Neuwagen gekauft, hatte ihn
durch die langen harten Winter Torontos gepflegt, in denen fast immer Streusalz
auf den Straßen gewesen war und hatte nicht die Absicht, ihn durch einen
anderen Wagen zu ersetzen. Die meisten Vancouverer schienen diese Einstellung
zu teilen. Seit seinem Umzug nach B. C. hatte es Henry immer wieder erstaunt,
wie viele oft mehr als zwanzig Jahre alte Autos hier noch herumfuhren - nicht
wenige mit Originallackierung - und wie neu wirkten. Im Osten wären diese Autos
längst auf Schrottplätze gewandert oder in die liebevolle Obhut von Sammlern
übergewechselt. Hier, im Westen, fuhr man sie alltäglich. Ein- oder zweimal
hatte Henry beim Blick aus dem Fenster fast vergessen, in welchem Jahrzehnt er
sich gerade befand.
Er drosselte sein Tempo noch weiter, als ein Waschbär im
Licht der Scheinwerfer des BMW langsam die Straße überquerte, anscheinend ohne
den Tonnen Stahl, die sich da mit einiger Geschwindigkeit näherten, überhaupt
Beachtung zu schenken. Henry kannte Waschbären als Stadtbewohner und war
verwundert, diesen hier so weit draußen auf dem Lande anzutreffen. In Vancouver
gab es sie überall; sie waren so zahm, daß sie im Stanley Park Leckerbissen
schnorren gingen, und in Vickis dreistöckigem Wohnhaus in Toronto hatte sich
sogar eine ganze Waschbärenfamilie auf dem Dachboden eingenistet.
Vicki.
Er hätte wissen müssen, daß seine Gedanken irgendwann
wieder zu ihr zurückkehren würden.
Was, wenn Sie unrecht gehabt hätten?
Das werden Sie jetzt nie erfahren.
So ist es besser. Henry packte das Steuer so fest, daß es
empört aufstöhnte. Ich hätte sie vernichten können, wäre ich geblieben und
hätte die Beherrschung verloren.
Oder sie dich, flüsterte ein leises Stimmchen in seinem
Hinterkopf und erinnerte ihn daran, daß Vicki in ihrer doch erst kurzen Zeit
als Bewohnerin der Nacht bereits einmal des Reviers wegen gemordet hatte.
Einen Kampf, den sie eigentlich nicht hätte gewinnen
dürfen, gegen eine weitaus ältere und erfahrenere Gegnerin. Aber Vicki besaß
ein ungeheures Talent dafür, gängige Konventionen auf den Kopf zu stellen.
War die Bindung zwischen Erzeuger und Kind erst einmal
gelöst, dann hatten Vampire keinen Kontakt mehr zu denen, die ihnen den Kuß geschenkt
hatten: So war es Henry beigebracht worden, daran hatte er geglaubt, und in
diesem Glauben hatte er stets sein Leben eingerichtet ... Vicki hatte die
Annehmlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu Hilfe genommen - Telefon, Faxgerät
und Internet -, um sich daranzumachen, einen Grundsatz, den
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