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Huff, Tanya

Huff, Tanya

Titel: Huff, Tanya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blood Ties 03 - Blutlinien
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ein
Toter, in Plastik gehüllt, und wartete auf ihn.
    Wartet auf
mich? Sein ängstliches Lachen erreichte seine Augen nicht, und nichts durchbrach die Stille, die wie Nebel im Raum hing. Vielleicht
sollte ich einfach wieder verschwinden und ein andermal wiederkommen. Aber er trat vor, einen Schritt, dann noch einen. Er hatte vergessen, die Beleuchtung anzuknipsen,
und nun lag der Lichtschalter hinter
ihm. Er hätte dem Sarg den Rücken zukehren müssen, um ihn zu betätigen, und das konnte er nicht, er konnte es
einfach nicht. Der vom Flur her einfallende Lichtstrahl mußte eben ausreichen, auch wenn dieser die den toten Körper
umgebenden Schatten kaum vertreiben
konnte.
    Durch seine Bewegung war ein kleiner Luftzug entstanden, der die Enden der Plastikabdeckung leicht hob, wonach die ganze Abdeck ung erwartungsvoll
flatterte.
    „Nee, das ist
mir zu komisch, ich hau ab hier."
    Aber er ging weiter auf den Sarg zu. Mit weit geöffneten Augen sah er sich selbst nach der Plastikplane greifen und sie vom Artefakt ziehen.
    Mann, da reite ich mich so richtig in die Scheiße. Vielleicht würde es ihm ja gelingen, die Plane genauso wieder anzubringen, wie sie gelegen hatte, und dann würde niemand ahnen, daß er ... daß er ... was zum
Teufel mache ich denn da eigentlich?
    Er stand über den Sarg gebeugt, sein Atem ging stoßweise und immer rascher. Seine Augen brannten, er konnte nicht blinzeln. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut drang heraus.
    Dann fing es
an.
    Sein jüngstes Ich ging als erstes verloren: die Arbeit der Nacht, alle
anderen Nachtschichten davor, seine Frau, ihre gemeinsame Tochter, deren Geburt,
ein rothäutiges, schreiendes Wesen - „Ernsthaft, Herr Doktor, sehen die alle so aus? Natürlich finde ich sie schön, aber sie ist irgendwie auch so zerquetscht..." - und
seine Hochzeit, auf der er sich so
sinnlos betrunken hatte, daß er beim Tanz mit einer alten Tante fast umgefallen wäre. Verloren waren die
mit seinen Kumpeln durchzechten Nächte, das langsame Herumkutschieren auf der
Yon ge Street - „Hey, guck dir die mal
an - die hat ja wahre Melonen!", -
Greatful Dead in voller Lautstärke aus den Lautsprechern des Autos, der Geruch von Bier und Marihuana und
schweißgetränkten Polstersitzen.
    Die Schulabschlußfeier ging verloren - eine Zeremonie, der er um
Haaresbreite hätte fernbleiben müssen - „Vielleicht kannst du ja jetzt mal den Arsch hochkriegen und dir einen Job beschaffen? Wo du
jetzt so einen vornehmen Wisch mit deinem Namen drauf hast?" „Ich glaube schon, Papa." - verloren seine Scham, weil
es ihm nicht gelungen war, in die Basketball-Mannschaft aufgenommen zu werden - sie rufen mich wirklich nicht auf! Ich
bin der einzige, der sich beworben hat
und den sie nicht wollen. Mein Gott, ich würde am liebsten im Fußboden
versinken - und ebenso ging der Schmerz verloren,
der ihn durchzuckt hatte, als der Fußball ihm das Nasen bein zerschmetterte. Noch einmal spürte er seinen
ersten Kuß, die Explosion nach dem
ersten Masturbieren, von dem er weder blind geworden war noch Haare auf den Handflächen bekommen hatte. Dann verlor er auch das.
    In rascher Folge verlor er seine Mutter, seinen Vater, viel zu viele Geschwister, das Haus, in dem er groß geworden war, den Geruch der unzähligen Hundehaufen im Frühjahr, wenn der Schnee verschwand, unter dem sie
verborgen gelegen hatten, einen Teddybären, auf dem so heftig herumgekaut worden war, daß er kein Fell mehr besaß, den
süßen Geschmack einer Brustwarze zwischen zwei heftig saugenden Lippen.
    Er verlor seine ersten Schritte, seine ersten Worte, seinen ersten Atemzug.
    Sein Leben.
    Ja .
    Mit eiserner Beherrschung löste Henry den Mund von der weichen Haut am
Handgelenk des jungen Mannes, legte dessen Arm behutsam, fast sanft nieder
und zog den Jackenärmel so weit hinab, daß er die kleine Wunde verdeckte. Er
trank lieber mit Leidenschaft und Begierde -
das setzte dem Hunger im Gegensatz zum Trinken aus Wut natürliche
Grenzen -, aber von Zeit zu Zeit tat es auch gut, sich an die eigene Stärke zu erinnern. Er richtete sich langsam auf und
fegte welke Blätter von seinem Mantel. Das Gerinnungsmittel in seinem Speichel
stoppte die Blutung, und alle drei würden bald das Bewußtsein wiedererlangen,
ehe Kälte und Feuchtigkeit ihnen irgendwelchen Schaden zufügen konnten.
    Er blickte auf die drei Gestalten, die dort im dunklen Schatten einer Eibenhecke ausgestreckt
lagen, und leckte sich einen Tropfen Blut aus
dem Mundwinkel. Er hatte

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