Humphrey, ich und Kokolores (German Edition)
ins Wohnzimmer. Ich musste lachen. Und auf einmal beschlich mich das Gefühl, dass es doch ein so etwas wie ein Date werden könnte.
»Mir ist bewusst, dass Nele es schwer hat«, begann Kokolores sogleich, nachdem wir im Wohnzimmer Platz genommen hatten. Da ich noch nie einen Lehrer einer Pseudotochter eingeladen hatte, um über Schulprobleme zu reden, überforderte mich die Rolle der Gastgeberin ein wenig. Bot man Kaffee an? Kuchen? Andererseits war es abends. Erwartete er ein Abendessen, gar ein Drei-Gänge-Menü? Oder reichten kleine Snacks? Ich hatte mich kurzerhand für die Snacks entschlossen und drei kleine Schüsseln mit Chips, Salzgebäck und Keksen auf den Couchtisch gestellt.
»Wissen Sie etwas über Neles leibliche Eltern?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das Problem ist ganz eindeutig Finja. Nicht Nele. Und nicht Neles leibliche Eltern.«
»Nun, Finja ist ein sehr aufgewecktes Mädchen mit viel Potenzial, das man allerdings im Zaum halten muss. Leider gelingt mir das nur teilweise.«
Ich schluckte. Ein aufgewecktes Mädchen mit viel Potenzial? Gefahrenpotenzial vielleicht.
»Weniger diplomatisch ausgedrückt«, fügte er rasch hinzu, »könnte man sie als Biest mit einem übersteigerten Hang zur Dramatik bezeichnen, die ein großes Bedürfnis danach hat, im Mittelpunkt zu stehen.«
»Das klingt eher nach dem Mädchen, das ich heute unter dem Namen Finja kennengelernt habe«, sagte ich mit einem Lächeln.
»Ich werde sie nicht ändern können. Aber Finja ist nicht das einzige Problem. Nele hat kaum Kontakt zu ihren Klassenkameraden. In den Pausen ist sie meistens alleine. Den Sportunterricht schwänzt sie meistens.«
»Ich habe den Sportunterricht auch geschwänzt. Wissen Sie wieso? Als Mannschaften gebildet wurden, blieb ich immer bis zum Schluss übrig und dann stritt man sich, wer mich nehmen sollte. Wissen Sie, wie sich das für einen heranwachsenden Menschen auswirkt?«
»Es ist nicht ganz einfach...«
»Es ist BESCHISSEN! Man hält sich sowieso schon für einen Loser, kommt mit sich, der Welt und seinen Pickeln nicht zurecht und der Tatsache, dass andere Mädchen größere Brüste haben und man selbst noch keinen BH trägt, von dem Druck Designerklamotten zu tragen, ganz abgesehen.«
Kokolores räusperte sich und trank einen großen Schluck Cola.
»Und dann sitzt man in der stickigen Sporthalle, während die Mädels um einen herum an ihren BH-Trägern zuppeln und die Jungs blöde kichern. Und keiner will einen im Fußballteam haben, weil man den Ball nicht trifft oder keine Tore schießen kann. Ich habe mich immer wie eine absolute Versagerin gefühlt, wenn sich die beiden Teams in die Haare bekommen haben, weil mich keiner haben wollte. Und als ich anbot nur zuzugucken, schritt die blöde Sportlehrerin ein und drohte allen mit Nachsitzen, wenn wir uns nicht einigen könnten. Dann wurde eine Münze geworfen und ich wurde unter Stöhnen und wüsten Beleidigungen in eine der zwei Mannschaften aufgenommen. Mehr als einmal habe ich mir vorgenommen, einfach abzuhauen. Und die Sechs im Zeugnis war mir egal, als ich beschloss, nicht mehr am Sportunterricht teilzunehmen.«
»Aber mit einer Sechs kann Nele nicht versetzt werden.«
»Wenn meine Mutter dem Rektor und der Sportlehrerin die Meinung geigt, wie in meinem Fall damals, und die Sechs in eine Vier umgewandelt wird, schon.«
»Die Rektorin wird sich darauf nie einlassen. Und außerdem ist ihre Mutter ja im Moment verhindert.«
»Hören Sie, es ist mir egal, dass -«
»Ich bin auf Ihrer Seite«, unterbrach er mich, als ich ihn gerade anschreien wollte. Er hob beide Hände. »Ich komme in Frieden»
Ich musste lächeln über diese Geste.
»Dann besorg ich Nele eine ärztliche Bescheinigung. Dann wird sie vom Sportunterricht befreit werden.«
»Hat sie denn...körperliche...Beeinträchtigungen?«, fragte er.
»Aber natürlich.«
Er hob beide Augenbrauen. »Und welche?«
»Ich kann mir diese Fachausdrücke nie merken. Aber der Arzt wird sie schon benennen.«
6.Kapitel
Eine Stunde nachdem Kokolores gegangen war, stellte ich fest, dass Humphrey verschwunden war.
»Hast du ihn etwa raus gelassen?«, fragte Nele mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
»Darf er denn nicht in den Garten?«
Nele schüttelte den Kopf. »Nachdem er die letzten drei Mal weggelaufen ist, nicht mehr.«
»Davon hat Mama gar nichts gesagt«, murmelte ich und durchschritt den kleinen Garten meiner Mutter zum zehnten Mal an diesem Abend. »Miez, miez,
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