Hundert Namen: Roman (German Edition)
Arm.«
»Eva«, flüsterte Kitty. »Das tut mir so leid.«
»Ich erzähle Ihnen das nicht, weil ich bemitleidet werden will«, entgegnete Eva und sah Kitty an. »Ich möchte nur, dass Sie es begreifen. Ich versuche es Ihnen zu erklären, damit Sie es verstehen.«
Kitty nickte.
»Irgendwann landete ich bei einer alten Nachbarin, die im Haus gegenüber wohnte. Wir saßen stundenlang vor dem Fernseher, dann kam irgendwann meine Tante, um mich nach Hause zu bringen. Die Nachbarin hatte nur Schwarzweißfernsehen, und ich weiß noch, dass wir endlos I Love Lucy angeschaut haben. Ich schwöre, ich halte den Anblick dieser Frau bis heute nicht aus, sie ist dermaßen naiv und dumm, alle haben gelacht, wenn sie gestolpert oder hingefallen ist oder sonst etwas Blödes gemacht hat. Und damals lief dauernd parallel durch meinen Kopf, was bei uns zu Hause passiert ist. Die alte Nachbarin, deren Namen ich inzwischen vergessen habe, hat die ganze Zeit kein Wort mit mir geredet. Sie hat mir ein Glas Milch und einen Teller mit Keksen hingestellt, sich in den Sessel neben mich gesetzt, und dann haben wir schweigend ferngesehen. Sie hat nicht mal gelacht, was die Sendung für mich noch erbärmlicher machte. Aber als ich abgeholt wurde, hat sie mir etwas geschenkt. Ein kleines chinesisches Lackkästchen mit einem Schloss und einem Schlüssel. Sie hat gesagt, es ist für meine Geheimnisse, weil jedes kleine Mädchen eine Kiste für seine Geheimnisse braucht. Ich weiß nicht genau, warum, aber es war das tollste Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hatte, einfach perfekt. Es war so passend – sie hat kein Wort über das verloren, was geschehen war, aber es kam mir vor, als würde dieses Geschenk all das umfassen.«
»Das war also das Geschenk, das Sie dazu gebracht hat, so zu denken, wie Sie es heute tun, und das in Ihnen den Wunsch geweckt hat, anderen Menschen zu helfen, das perfekte Geschenk zu finden.«
»Ja«, antwortete Eva nur und strich mit den Fingerspitzen über das Kästchen, das George ihr geschenkt hatte.
»Haben Sie George diese Geschichte erzählt?«
»Nein, nur von dem Kästchen. Den Rest habe ich noch nie jemandem erzählt. Und das Kästchen habe ich vor Jahren verloren, bei irgendeinem Umzug.«
»Aber er muss gewusst haben, dass es für Sie sehr wichtig war.«
»Ja«, antwortete sie und klang selbst ein bisschen überrascht.
»Eva, darf ich Sie fragen, wie alt Sie waren, als Sie … als Sie das Kästchen bekommen haben?«
»Fünf«, antwortete sie leise, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Kitty machte sich im Hinterkopf eine Notiz.
Name Nummer drei: Eva Wu.
Titel: Das Hoffnungskästchen.
»Aber wie dem auch sei«, sagte Eva, räusperte sich, und sofort verschwand das Gefühl aus ihrem Gesicht, und ihre schöne Maske war wieder da. »Ich habe auch ein Geschenk für Sie.«
»Für mich? Eva, das ist doch nicht nötig. Sagen Sie jetzt bloß nicht, es sind die alten Männer von der Hochzeitsfeier«, fügte sie als Witz hinzu.
Eva lachte. »Es ist nur eine Kleinigkeit. Ich habe nicht mal gezielt danach gesucht, ich bin zufällig darauf gestoßen, und angesichts dessen, was Sie in letzter Zeit durchgemacht haben, fand ich es passend.« Sie griff in ihre Tasche und zog behutsam eine Topfpflanze heraus. Erst als Kitty das Etikett an der Seite las, begriff sie den Sinn des Ganzen.
» Züchte dein eigenes Glück «, las sie laut vor und fing an zu lachen. Der Topf war mit Erde gefüllt, und an ihm war ein kleines Tütchen mit Klee-Samen befestigt.
»Ich hoffe, es funktioniert«, grinste Eva.
»Das hoffe ich auch.« Kitty schluckte schwer, als sie an das dachte, was noch vor ihr lag. »Danke, Eva.«
»Ich kenne jemand, der Ihnen dabei hilft«, fügte Eva noch hinzu, zog vielsagend die Augenbrauen hoch, und sie lachten beide.
In diesem Moment hörten sie laute Stimmen aus dem vorderen Teil des Busses. Offenbar hatten Molly und Edward wieder einmal eine Meinungsverschiedenheit über die richtige Route.
»Ach du Scheiße«, sagte Molly plötzlich laut und schaute in den Rückspiegel.
Alle wandten sich um und sahen sofort den Grund für ihr Entsetzen. Auf dem Seitenstreifen näherte sich ein Polizeiwagen.
»Vielleicht meinen die gar nicht mich«, meinte Molly hoffnungsvoll.
»Natürlich meinen die dich«, fauchte Edward. »Hast du nicht mitgekriegt, was du gerade gemacht hast?«
»Ach, sei still«, zischte sie.
»Na, dann brems gefälligst ab, ja?«, schimpfte er. »Die winken dich schon
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