Hundert Namen: Roman (German Edition)
Einschätzung stimmte. »Aber seither hat sich viel geändert, das könnt ihr mir glauben.
Zunächst hatte ich weiter nichts an der Hand als eine Liste mit hundert Namen. Das war alles, was ich über Constances Geschichte wusste. Keine Zusammenfassung, keine Erläuterungen, keinen Entwurf, absolut nichts außer einer Liste von zufällig zusammengewürfelten Leuten, über die noch nie jemand etwas gehört hatte. Ich wusste nicht, wie ich sie kontaktieren sollte, ich wusste nicht, worum es in dem Artikel ging, ich wusste gar nichts. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich zu diesem Meeting kommen konnte«, erklärte sie, und als sie in die Runde blickte, wurde ihr klar, dass niemand über die Bedingungen ihrer Arbeit informiert worden war. »Ich war völlig auf mich selbst gestellt, um die Verbindung zwischen diesen hundert Menschen zu finden, denn wir gingen davon aus – also, ich jedenfalls –, dass das der Knackpunkt war. Bisher habe ich mich mit sechs von diesen Menschen getroffen.«
Pete stieß ein entnervtes Stöhnen aus.
Sofort wandte Kitty sich ihm zu. »Pete, es war schlicht unmöglich, in zwei Wochen mit hundert Menschen zu sprechen – mit Menschen, die überhaupt keine Ahnung hatten, dass jemand etwas über sie schreiben wollte.«
»Hat Constance nicht mit den Leuten auf ihrer Liste gesprochen?«, fragte Rebecca.
»Nein!« Kitty lachte. »Constance hat nicht mal gewusst, wer sie sind!«
Verwirrt sahen alle sich an.
»Inzwischen ist mir das alles absolut klar«, fuhr Kitty fort. »Als ich Constance zum letzten Mal gesehen habe, hat sie mir wie immer einen Vortrag gehalten über die Kunst, wie man einen guten Artikel schreibt. Sie hat mir ausführlich erklärt, dass man, wenn man sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, nicht auf Teufel komm raus eine Lüge aufdecken oder ein weltbewegendes Thema beackern muss – es geht einfach nur darum, zum Kern dessen vorzudringen, was real ist.
Meine Aufgabe war also nicht, ein Geheimnis oder eine Lüge aufzudecken oder irgendetwas Weltbewegendes herauszufinden, was diese hundert Menschen vielleicht vor mir verstecken wollten. Nein, meine Aufgabe war es, einfach ihrer Wahrheit zuzuhören. Constances Idee war eigentlich ganz einfach.« Sie hielt einen Moment inne. »Wenn man zufällig hundert Namen aus dem Telefonbuch nimmt, findet man nicht nur eine Geschichte, sondern hundert , denn alle diese Menschen, jeder einzelne von ihnen, hat eine Geschichte zu erzählen. Jeder ganz gewöhnliche, normale Mensch hat seine eigene, außergewöhnliche Geschichte. Vielleicht denken wir alle, wir wären unbedeutend, unser Leben wäre langweilig, nur weil wir keine weltbewegenden Dinge tun, keine Schlagzeilen machen und weil man uns keine Auszeichnungen verleiht. Aber die Wahrheit ist, dass wir alle etwas Faszinierendes tun, etwas Mutiges, etwas, worauf wir stolz sein können. Jeden Tag vollbringen Menschen Dinge, die nicht gefeiert werden, obwohl sie es wert sind, gefeiert zu werden. Das ist es, worüber wir schreiben sollten. Über die unbesungenen Helden, über die Leute, die nicht glauben, dass sie Helden sind, weil sie einfach nur das tun, was sie in ihrem Leben tun müssen.«
Inzwischen war es im Konferenzraum so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen, wir alle«, fuhr Kitty fort. » Das ist es, was uns verbindet, das ist es, was auch die hundert Namen auf der Liste verbindet. Constance hat sich einfach auf das Grundlegende besonnen.«
Als Kitty sich im Raum umblickte, sah sie, dass Bobs Augen tränennass waren und sein Kinn zitterte, so tief ergriff es ihn zu sehen, wie Constances Geschichte zum Leben erwachte und wie Constance, die für immer verstummt war, endlich ihre Stimme fand.
»Constances Idee trägt den Titel Hundert Namen , und so leid es mir tut, Pete – ich habe nicht eine Geschichte für dich, sondern sechs.«
Sie ging zum Projektor hinüber, legte Constances Originalliste darunter und betätigte den Lichtschalter. Sofort erschienen die Namen auf der Wand hinter ihr.
»Das sind die hundert Namen, und nun möchte ich euch die dazugehörigen Menschen vorstellen.«
Sie eilte zur Tür, öffnete sie, und alle beobachteten staunend, wie Ambrose Nolan, Eva Wu, Archie Hamilton, Jedrek Vysotski, Bridget Murphy und Mary-Rose Godfrey den Raum betraten und sich gleichzeitig schüchtern, stolz und auch ein bisschen verwirrt umschauten.
»Darf ich bekannt machen: Name Nummer zwei,
Weitere Kostenlose Bücher