Hundert Namen: Roman (German Edition)
Schaffell nieder, das neben einem Perserteppich den Boden schmückte und etwas fehl am Platz wirkte, und untersuchte den niedrigen Couchtisch, auf dem das Telefon stand. Ohne zu wissen, warum, folgte sie dem Impuls, unter den Tisch zu spähen, und siehe da: Statt auf vier normalen Beinen ruhte die hölzerne Tischplatte auf Telefonbüchern und Gelben Seiten, jeweils fünf Ausgaben aus den letzten zehn Jahren. Kitty lachte so laut auf, dass Teresa an der Tür erschien, um nachzuschauen, was sie Lustiges entdeckt hatte. Als sie sah, wie Kitty die Tischplatte von den Büchern abhob, verdrehte sie die Augen und wanderte den Flur hinunter zurück in die Küche. Gespannt blätterte Kitty das neueste Telefonbuch durch, fand aber keinen Hinweis darin. Dann nahm sie sich das vom letzten Jahr vor, schlug direkt die Seite mit McGowan auf – sonst konnte sie sich in diesem Moment vor lauter Aufregung an keinen Namen erinnern – und machte vor Freude fast einen Luftsprung. Der Name war mit rosa Marker angestrichen. Schnell holte sie die Liste aus ihrer Mappe, schaute beim zweiten Namen – Ambrose Nolan – nach, und zu ihrer großen Freude war auch dieser Name gekennzeichnet. So ging sie einen Namen nach dem anderen durch und jubelte jedes Mal laut, wenn sie feststellte, dass auch er im Telefonbuch markiert war. Endlich hatte sie Glück! Triumphierend reckte sie die Faust in die Höhe und stieß dabei aus Versehen gegen eine Lampe, die gefährlich ins Wanken geriet, und ein kleines rotes Adressbuch fiel auf den Boden – das Adressbuch, das Bob gesucht hatte. Kitty lachte, umarmte das Telefonbuch und hob das Gesicht zum Himmel.
»Danke«, flüsterte sie.
Kapitel 6
Jetzt hatte Kitty also alle Namen samt Adressen und Telefonnummern. Alle lebten in Irland, so dass sie ihre Suche wenigstens auf ein Land beschränken konnte. Auf einmal war sie so dicht an Constances Geschichte dran, dass sie praktisch schon die Farbe des frisch gedruckten Artikels in der Zeitschrift riechen konnte. Allerdings stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie gar nicht darauf brannte, sofort mit allen Kontakt aufzunehmen – und das, obwohl ihr gerade mal eineinhalb Wochen bis zum Abgabetermin blieben! Aber wenn sie ins Telefonbuch schaute, wurde ihr Blick immer wieder magisch zu einem bestimmten Namen gezogen, der nicht einmal auf Constances Liste stand.
Schließlich nahm sie den 123er Bus zur O’Connell Street und dann die 140 nach Finglas. Eine Stunde später erreichte sie ihr Ziel, aber obwohl sie sich die ganze Fahrt über den Kopf zerbrochen hatte, hatte sie immer noch keine Ahnung, was sie überhaupt sagen wollte. Sie stand auf der anderen Seite der Grünfläche vor Colin Murphys Haus, Kinder sausten auf Fahrrädern um sie herum und überfuhren sie fast, als wäre sie gar nicht da. Auf einmal wünschte sie sich das auch. Auf den Straßen wimmelte es von Müttern mit Kindern, alle hatten irgendetwas zu erledigen, keiner nahm Notiz von der Anwesenheit einer Fremden. Noch nicht. Bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, bis eins der Kinder seine Mutter auf die unbekannte Frau aufmerksam machte, die da auf dem Rasen herumlungerte, einem etwa hundert Meter langen Grasstreifen, der diagonal von einem Weg durchkreuzt wurde und von einer schmalen, kniehohen Mauer umgeben war. Kitty war hier völlig ungeschützt und verletzlich, nur durch die Entfernung und ihre eigene Angst von Colins Haus getrennt. Sie beobachtete die Nachbarn, studierte ihre Gesichter und überlegte, wer von ihnen wohl im Gerichtssaal gewesen war, wer sie beschimpft, wer sich mit Sprayfarbe und Toilettenpapier an ihrer Tür zu schaffen gemacht hatte, während sie schlief oder bei der Arbeit war. Hatten diese Menschen sie die ganze Zeit so beobachtet, wie Kitty jetzt sie beobachtete? Eine Mütze tief in die Stirn gezogen, so starrte sie auf Colin Murphys Haus und konnte sich nicht entscheiden, ob sie hingehen und was sie ihm gegebenenfalls sagen sollte.
Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich Ihr Leben zerstört habe. Es tut mir leid, dass Sie von der Schule beurlaubt worden sind, es tut mir leid, dass Ihre Nachbarn plötzlich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben wollten. Es tut mir leid, dass Sie, aus Gründen, die bestimmt auch irgendwie mit dieser ganzen Sache zusammenhängen, Ihr Haus verkaufen müssen. Es tut mir leid, dass Ihre Ehe gelitten hat. Es tut mir leid, dass ich Ihren Job in Gefahr gebracht habe. Es tut mir leid, dass ich Schande über Ihre Familie gebracht
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