Hundert Namen: Roman (German Edition)
und persönliche Beziehungen zerstört habe. Ich weiß, Sie denken bestimmt, dass ich das alles sowieso nicht verstehe, Sie denken, ich bin ein herzloses Biest und gar nicht fähig, so etwas zu verstehen, aber das stimmt nicht. Glauben Sie mir, ich kann es verstehen. Ich kann es verstehen, weil ich das Gleiche durchmache.
All das wollte Kitty sagen, aber sie wusste, dass in ihrer Entschuldigung viel zu viel Selbstmitleid mitschwang, wo sie doch selbstlos sein musste. Aber das schaffte sie einfach nicht, weil sie das Gefühl hatte, selbst ebenfalls zu leiden. Natürlich, es war ihre Schuld, aber sie litten doch beide, Kitty und Colin, und diejenigen, die ihn liebten und zu beschützen versuchten, sorgten dafür, dass ihr Leiden nicht aufhörte.
Nachdenklich betrachtete sie das Haus, in dessen Vorgarten ein »Zu verkaufen«-Schild stand. Keine Spur von Colins Kindern, keine Fahrräder im Garten, keine Spielsachen auf den Fensterbrettern, nur Colins Auto stand in der Auffahrt. Kitty erinnerte sich, wie er nach der Schule einmal vor ihr in dieses Auto geflohen war, weil sie ihn mit ihrer Kamera bedrängt hatte, sie erinnerte sich an sein bestürztes, verwirrtes Gesicht. Damals hatte sie ihn für einen Kriminellen gehalten, sie war sogar ganz sicher gewesen, aber wenn sie jetzt an die Dinge dachte, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, schämte sie sich von Herzen. Ob das Auto in der Auffahrt bedeutete, dass er noch nicht wieder zur Arbeit ging? Seine Schule hatte ihn doch bestimmt zurückgenommen, jetzt, wo er vollständig rehabilitiert war. Oder war das Stigma zu heftig?
Es tut mir wirklich leid.
Colin Murphy war achtunddreißig. Gleich nach dem College, mit gerade mal vierundzwanzig, hatte er in der Finglas Community Secondary School für Zwölf- bis Achtzehnjährige angefangen. Bei den Schülern war er sehr beliebt – was ihm später zum Nachteil ausgelegt wurde –, wurde am Schuljahresende regelmäßig zum Schülerball eingeladen, und manche Schüler nahmen den einfühlsamen, verständnisvollen jungen Mann gar nicht richtig als Lehrer wahr, weil er wenig Hausaufgaben aufgab und als Strafe gelegentlich Liegestütze verhängte oder die neueste Nummer eins der Charts singen ließ. Ihm vertrauten die Schüler ihre Probleme an, und er wurde mehrmals zum Vertrauenslehrer gewählt, was für einen Sportlehrer eher ungewöhnlich war. Die Annäherungsversuche der sechzehnjährigen Tanya O’Brien wies er entschieden zurück, musste jedoch zehn Jahre später unter den Konsequenzen leiden. Aus welchen Gründen auch immer beschloss Tanya zu diesem Zeitpunkt nämlich, ihm ihre Enttäuschung heimzuzahlen, und überredete ihre alte Schulfreundin Olivia O’Neill, ihre Komplizin zu werden. Inzwischen stand zweifelsfrei fest, dass Olivia damals wirklich geglaubt hatte, Tanya sei von Colin missbraucht worden und ihr zehnjähriger Junge sei tatsächlich Colins Sohn. Tanya hatte Olivia nicht nur davon überzeugt, dass es zwei weitere »Opfer« mit identischen Erlebnissen gab, die ihre Behauptungen untermauerten, sondern auch, dass sich mit dem erlittenen Trauma Geld machen ließ. Zeitungen würden Artikel über sie veröffentlichen, vielleicht würde es sogar Auftritte im Fernsehen geben, und als Beweis zeigte Tanya ihrer Freundin Berichte über frühere Missbrauchsfälle, in denen es sich für die Betroffenen finanziell ausgezahlt hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Auf diese Weise hatte also eine böswillige junge Frau eine gelangweilte und labile Komplizin gefunden und mit ihr eine überambitionierte Journalistin aufs Korn genommen. Kitty war jung, sie hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich, und die beiden hatten gewusst, dass sie sich in ihrem Übereifer auf ihre Geschichte stürzen würde. Und genauso war es gekommen. Kitty hatte den Köder im Handumdrehen geschluckt, sie hatte den Redakteur und den Produzenten ihrer Sendung überzeugt, dass es sich lohne, der Sache nachzugehen, und sich selbst eingeredet, dass es dem Wohl der Allgemeinheit diene, über die Sache zu berichten und den Täter an den Pranger zu stellen.
Auf einmal ging die Haustür auf, und Colin Murphy kam heraus. Mit gesenktem Kopf, wie Kitty ihn zuletzt im Gerichtsgebäude gesehen hatte, das Kinn an die Brust gedrückt. Ihr Herz hämmerte wild, und ihr wurde klar, dass sie es nicht konnte. Die Mütze noch immer tief in die Stirn gezogen, wandte sie sich ab und entfernte sich rasch, wieder mit dem Gefühl, ein Eindringling in Colins Leben zu
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