Hundsleben
23. Dezember?« Evi wirkte etwas
konsterniert.
»Ja, Evilein, wir sitzen am 23. Dezember auch im Büro.
Warst du nicht eben erst im Neandertal und wirst nun Weihnachten einsam vor
einer ebenso einsamen Kerze sitzen?«
»Erstens, Weinzirl: Der Joke ist allmählich wirklich
schlecht: NEA heißt
Neustadt/Aisch. Zweitens: Meine Schwester lebt in Vancouver, und meine Eltern
fliegen dahin. Was also sollte ich in NEA ?
Drittens: Ich werde überhaupt nicht einsam sein: Ich gehe zu Jos
Christmas-Party. Auf die du übrigens auch eingeladen bist. Viertens fahre ich
jetzt kurz heim, zieh mich um, ess was und treff dich um vier wieder hier. Dann
können wir ja gemeinsam nicht aufs Christkind warten, sondern auf Reibers
Anruf.«
Und weg war sie, ebenso schnell, wie sie gekommen war.
Gerhard sah ihr nach. Evi – das Leben immer im Griff. Natürlich, die Party: Jo
und Kassandra hatten geladen zu einer Festivität für all die Heimatlosen.
Fondue für alle, Wein in Strömen, ein furchtbar bunter Weihnachtsbaum, Leute,
die sich teils gar nicht kannten. Jo liebte solche zusammengewürfelten
Menschencocktails, und so krude die Mischung oft auch war, Jos Partys waren
Legenden. »Legenden der Leidenschaft«, Legenden der Trinkeslust. Eigentlich
hatte er da nicht hingehen wollen, wegen Kassandra, weil er nämlich
befürchtete, dass die ihren Notarzt mitbrachte. Ihre letzte Eroberung, ein
furchtbar netter Typ – zu allem Unglück. Und dann würde ja auch Reiber da sein.
Der würde ja wohl kaum heute Nacht noch heimfahren? Andererseits war Reiber ein
Mann, der wahrscheinlich mit drei Stunden Schlaf auskam, am Morgen perfekt
aussah und bereits glasklar denken konnte. Womöglich hatte Reiber ja doch
Familie? Wahrscheinlich sogar mit einer perfekten Frau und Kindern, die jetzt
im Vorschulalter schon einen Platz in Yale hatten. Oder Harvard. Er wurde
zynisch, daran bestand kaum noch Zweifel, aber das lag an diesem bescheuerten
Weihnachten.
Gerhard wandte sich einem Haufen unsortierter Papiere
zu. Büroarbeit, genau das Richtige, um in Weihnachtsstimmung zu kommen. Aber
man sollte ja im alten Jahr noch die Altlasten abarbeiten. Man sollte die Dinge
fertig machen. Gerhard beschloss, eine Tüte Chips fertig zu essen und in dem
Kasten Dachs die letzte Flasche zu leeren. Eine schöne Philosophie!
Punkt vier war Evi wieder da und widmete sich ihrem PC . Um Viertel nach fünf rief Reiber an.
Er war in Seeg und würde am Ortseingang warten, falls er zuerst da sei. Es war
genau Viertel vor sechs, als Gerhard und Evi Urspring erreichten. Ein schwarzer
Benz mit Berliner Kennzeichen stand seitlich an der Ortszufahrt. Evi war
gefahren und ließ ihren Wagen hinter dem Berliner ausrollen. Sie stiegen alle
ziemlich synchron aus, Reiber kam ihnen mit einem offenen Lächeln entgegen.
Gerhard warf sekundenschnell einen Blick auf Evi, sie konnte die Überraschung
nicht verbergen. Dieser ehemals schnieke, arrogante Reiber hatte so an
Ausstrahlung gewonnen, dass schon der erste Blick genügte. Das musste die Zeit
der Filmgrößen-Kopien sein. Gestern Brad Pitt in jünger, heute Clooney etwa im
Clooney-Alter.
Reiber schüttelte ihnen beiden die Hand, selbst sein
Händedruck war fester geworden.
»Sie haben ganz schön viel Schnee hier!«, machte er
Konversation.
»Und Sie haben diesmal Winterreifen?«, fragte Gerhard.
Das war ihm so rausgerutscht, ein blöder Lapsus und wirklich unpassend. Bei
ihrem ersten Zusammentreffen war Reiber nämlich mit einem tiefergelegten BMW erst mal in einer Schneewechte
versackt.
»Ich lerne dazu, Herr Weinzirl.« Er lachte ihn offen
an, kein Anzeichen von Pikiertheit. »Gut, dann mal in medias res. Erzählen Sie
mir doch nochmals von den Angerers.«
Na, da blitzte doch etwas vom alten Reiber durch. Ein
Fremdwort zur rechten Zeit. Gerhard riss sich zusammen und berichtete kurz und
sachlich.
»Ja, liebe Kollegen, da ist die Dame wirklich in
Erklärungsnotstand. Fragen wir sie als Zeugin oder als Verdächtige eines
Mordes?«, fragte Reiber.
»Als Beschuldigte, oder?«
»Na dann!«, meinte Reiber.
Es war kurz vor sechs, als sie bei Angerers läuteten.
Herr Angerer öffnete. »Sie schon wieder?«
»Wir müssten Ihre Frau sprechen. Können wir
reinkommen? Das ist Volker Reiber, der Kollege aus Berlin«, sagte Evi.
»Guten Tag«, sagte Reiber.
»Wieso Berlin? Was hab ich mit Berlin zu tun?« Angerer
schaute missmutig und misstrauisch vom einen zum anderen.
»Das, Herr Angerer, sollte Ihnen vielleicht besser
Ihre Frau
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