Hundsleben
Weißbier, mehr brauchte er nicht. Jo hatte ihn vorhin
nochmals angerufen wegen der Weihnachtsparty für all die Heimatlosen. »Volker
kommt auch. Ich finde, Volker hat sich echt zum Besseren entwickelt. Was war
das für ein geschleckter Arsch im Allgäu.« Dazu hatte sie künstlich gelacht und
eilfertig hinzugefügt: »Evi kommt ja auch, einfach alle!« Aber er war nicht
alle. Er wusste schließlich, dass Evi und Volker kamen. Und so wie Jo über
Volker gesprochen hatte, wusste Gerhard Bescheid. Der Name Volker war zu oft
gefallen, und er kannte Jo einfach zu gut. Sie hielt es mit der Theorie, dass
der offensive Umgang mit Namen und Typen weniger verdächtig sei als das
Verschweigen. Wahrscheinlich war sie damit bei einigen ihrer Beziehungen ganz
gut gefahren, die von keiner der kleinen und großen Affären etwas gemerkt
hatten, Jo hatte einfach so viele gute Kumpels und Freunde. Aber Gerhard hatte
das immer gewusst. Der, dessen Name im Plauderton fiel, der war der nämliche.
Volker und Jo, das war ja eigentlich unvorstellbar, oder? Aber Jo hatte bei der
Auswahl ihrer Männer nie ein gutes Händchen gehabt. Nur – er war einer davon
gewesen, und auch er war nun mal keine gute Wahl gewesen. Aber Volker? Volker
und Jo – Gerhard spürte, dass ihm das nicht gefiel.
»Na dann, frohe Weihnachten«, sagte die junge Frau und
ging hinein. Von drinnen klang »Last Christmas« an sein gepeinigtes Ohr.
Plötzlich war es still. Rüde hatte sie den Song unterbrochen. »I gave you my
hea…« Die automatische Türverrieglung gab ein Knacken von sich, und auf
einmal war es totenstill.
Er sah sich um. Er war allein. Eine bleierne Schwere
zog ihn erdwärts, er war nicht im Stande, loszugehen. Zwei, drei Schneeflocken
schwebten herab, zögerlich erst. Er schloss die Augen, legte den Kopf in den
Nacken. Der Schneefall nahm zu, und er würde erst dann weitergehen, wenn der
Schnee seine Schritte verschlucken würde. So lange, bis seine Schritte nicht
mehr hallten zwischen den leeren Häusern. Bis der Schnee die Welt und alles
darin verschlucken würde.
Ganz so lange blieb er denn doch nicht. Er fuhr in
seine Wohnung, packte ein paar Sachen in einen Rucksack und warf ihn in den
Bus. Er war heilfroh, als der Angerufene ranging. »Matte, wie steht’s?«
»Es steht mir bis Oberkante Unterlippe!«
»Hört sich gut an, wir liegen auf dem gleichen Level.«
»Weihnachtsblues?«, kam es vom anderen Ende.
»In etwa, ein Scheißfall zudem.«
»Das erzählst du mir, wenn du hier bist«, sagte Matte.
»Wo, hier?«
»In Konstanz, wo sonst? Ich kühle schon mal das gute
Ruppaner-Weißbier ein, das schmeckt besser als dein Dachs. Ich hab ein paar
Malts, sehr viel Pizza, und ich stecke das Telefon aus, hau den BlackBerry ins
Eck, und dann lassen wir es uns gut gehen.«
»Das klingt nach einem Plan.« Gerhard lachte leise.
»Versprich aber, das Radio auch ins Eck zu werfen. Noch einmal Wham!, und ich
schlag alles kurz und klein. Bis dann!«
Es war gespenstisch. Kein Verkehr, keine Autos. Er
flog nur so durch das Allgäu, es war, als wäre er auf der Flucht. Erst in Höhe
der europäischen Wasserscheide kam ihm ein Auto entgegen. Der Hauchenberg war
weiß überzuckert, Weitnau lag still in der Winterlandschaft. Eine Welle von
Traurigkeit überflutete ihn. Das Allgäu, sein Allgäu – er hatte es verloren, er
hatte den Bezug dazu verloren. Er sah es wie ein Tourist, der fast überrascht
war, wie schön es sein konnte auf der Welt. Ein durchreisender Tourist, der
beschloss, hier mal Urlaub zu machen.
In Isny nahm er wie stets den Schleichweg am
Krankenhaus vorbei. Sein Vater, der immer im Frühling an den See hatte fahren
müssen, weil er den Allgäuer Schnee nicht mehr hatte sehen können, war schon
hier gefahren. War das alles lange her, und doch gab es noch die Tanzbar Hecht.
Und den »Fliegenden Bauern«. Das Schild, das er links aus dem Augenwinkel
wahrnahm, veranlasste ihn zu einer Vollbremsung. Obsthof Weber, na, er würde
Matte wenigstens ein Präsent mitbringen. Eine junge Frau öffnete auf sein
Klingeln. Seine Entschuldigung, er sei etwas spät dran, quittierte sie mit
einem Lachen. Mit einem Obstler und einem Willi bewaffnet zog er davon. Nach
eineinhalb Stunden seit seinem Aufbruch war er am Pfändertunnel – eine gute
Zeit für eine Strecke, die man sonst nur im Zuckeltempo bewältigen konnte. Der
Tunnel war ebenfalls gespenstisch leer, Gerhards Laune stieg.
Und weil das der Tag der Reminiszenzen war, fuhr er
erst auf der
Weitere Kostenlose Bücher