Hundsvieh - Kriminalroman
noch das Maiensäss, zu dem mir Reto Müller heute Morgen den Schlüssel zugesteckt hat. Und dann gibt es diesen dritten Weg. Mich der Polizei stellen, dem ganzen Theater ein Ende setzen.
Unfähig eine Entscheidung zu fällen stehe ich da und starre auf die Papierfetzen auf dem Boden.
Jemand klopft draußen an die Telefonzelle. Erschrocken zucke ich zusammen, klaube dann die nicht vertelefonierten Münzen aus dem Apparat, nehme meinen Rucksack und öffne die Tür der Kabine. Die Scheibe spiegelt, ich sehe nur die Umrisse eines Mannes mit Hut und Mantel.
»Guten Abend«, murmle ich und halte ihm die Tür der Kabine auf.
»Das hat ganz schön lange gedauert, Mettler, ich muss mit Ihnen reden!«
Hat der andere gerade meinen Namen gesagt? Für einen Bruchteil einer Sekunde bin ich wie erstarrt, dann regt sich mein Fluchtinstinkt und ich versuche, mich am Mann vorbeizudrängeln. Ein harter Schlag trifft mich an der Wange, einen Moment lang gerate ich aus dem Gleichgewicht, ein gezielter Fußtritt erwischt mich in der Kniekehle, der Boden rast meinem Kopf entgegen und wir knallen zusammen. Irgendwo tut sich ein tiefes, schwarzes Loch auf.
Wie lange ich weggetreten war, weiß ich nicht. Erinnerungsfetzen tauchen auf, die Telefonkabine, das Gespräch mit Mona. Dann der Fremde, der mich erkannt und niedergeschlagen hat. Langsam fährt meine Zunge über die aufgesprungene Unterlippe, schmeckt Erde, schmeckt Blut. Tief durchatmen, befehle ich mir, keine Panik, die Augen vorerst geschlossen lassen, spüren, wo der Schmerz sitzt.
Rechtes Bein, Knie hinten, Fußtritt, erträglich.
Rechte Hüfte, außen, Aufschlag, erträglich.
Linke Wange, Kiefer, Lippen, Faustschlag, dumpfes Gefühl. Zähne übrigens vollständig anwesend, so hart kann der Schlag nicht gewesen sein.
Nach dieser Bestandsaufnahme öffne ich langsam die Augen. Es ist dunkel geworden, Bergspitzen kratzen an einen Himmel aus dunkelblauem Glas.
»Sie haben es nicht anders gewollt, Mettler!« Vorsichtig drehe ich den Kopf, sehe zwei elegante Schuhe, meine Augen folgen den Hosen, ein dunkler Mantel, ein Kopf mit Hut, das Gesicht liegt im Schatten.
»Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, mein Freund?« Diese Stimme kommt mir bekannt vor.
Langsam setze ich mich auf. »Geht man so mit einem Freund um?«
Er steckt sich eine Zigarette in den Mund. Ein Streichholz flammt auf und beleuchtet sein Gesicht.
»Herr Morandi? Mit Ihnen habe ich wirklich nicht gerechnet. Das war ein ordentlicher Schlag!« Ich reibe mir über die Wange.
Morandi kichert. »Ich kann auch fester, Mettler, wenn es ein muss, das können Sie mir glauben, ich wollte nur, dass Sie nicht abhauen, verstehen Sie?«
Ich verstehe rein gar nichts, diese Rechtfertigung von Gewalt scheint mir äußerst gewagt, jedenfalls stelle ich mir Freundschaftsbeweise anders vor. Um ihn nicht zu provozieren, nicke ich folgsam.
»Kommen Sie, ich lade Sie zum Essen ein.« Morandi streckt mir die Hand entgegen und hilft mir beim Aufstehen. Er klopft mir freundlich den Staub von der Jacke, dann nimmt er mir den Rucksack ab, als Pfand sozusagen, damit ich mitkomme. Neben dem Bahnhofsgebäude steht ein klappriger Volvo. »Steigen Sie ein, Mettler.«
»Wohin fahren wir?«
»Nicht weit, ich kenne ein gutes Restaurant hier im Ort.«
»Wie kommen Sie hierher? Wie haben Sie mich gefunden?«
Er macht die Geste des Telefonierens. »Ein gemeinsamer Bekannter hat mich angerufen!«
Ein gemeinsamer Bekannter?«
Morandi grinst. »Kubashi!«
»Dieser Verräter.«
»Ach was, er wollte bloß sicher gehen, dass wir beide unseren Auftrag im Auge behalten!«
»Und Sie haben sicher schon die Polizei angerufen, oder?«
Morandi macht ein unschuldiges Gesicht. »La polizia? Ma no, Mettler! Was hätte ich davon?«
Da hat er auch wieder recht. Denn ich könnte der Polizei erzählen, dass sich Morandi ebenfalls stark für Hunde interessiert. Irgendwie bin ich nun doch erleichtert, nur Kubashi und Morandi kennen meine Aufenthaltsort. Fritschi, Keller und die Bündner Kantonspolizisten hingegen wissen nicht, dass ich in Bergün bin.
Wenig später sitzen wir in der gemütlichen Arvenstube des Hotels Rätia, vor uns je ein dampfender Teller mit einem ordentlichen Pfeffersteak, Spätzli und Rotkraut. Zwischen uns eine gute Flasche Veltliner.
Morandi hebt das Glas. »Viva, io sono Marco!«
»Ich bin Claudio. Viva Marco!« Verrückt, eben noch hat er mich niedergeschlagen, nun prosten wir uns freundschaftlich zu.
»Senti, Claudio,
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