Hundsvieh - Kriminalroman
schmalen Band durch eine Felswand, unter mir prasseln kleine Steinchen ins Leere, doch für Schwindel und Angst bleibt mir keine Zeit.
Es dämmert bereits. Weit oberhalb auf der anderen Talseite ragen die Türme der Scioragruppe und der Pizzo Badile mit seiner abweisenden Nordwand in den Abendhimmel. Darunter versinkt der mächtige Bondogletscher langsam in der Dunkelheit. Das Paradies für Kletterer war auch für viele Maler und Schriftsteller, die Soglio im letzten und vorletzten Jahrhundert besuchten, eine immer neue Inspirationsquelle. Der abrupte Wechsel von Licht und Schatten, das Spiel der Farben in den steilen Wänden war ein Schauspiel, an dem sie sich nicht sattsehen konnten. Für die einheimische Bevölkerung aber bedeuten die steilen Wände lange Wintermonate ohne Sonne im Talgrund, nur Soglio bekommt dank seiner Höhenlage regelmäßig ein paar wärmende Strahlen ab.
Nach einer guten Stunde lasse ich den Wald hinter mir, das Gelände wird offener. Bald werde ich im Dorf sein. Was dann? Wen werde ich in Soglio treffen?
Etwa meinen Freund Reto Müller, der mich ins Museum gelockt hat, der mir sein wunderbares Maiensäss in Bergün besorgte, in dem ich fast verbrannt wäre? Werde ich sehen, wie Keller den Hund an einen ausländischen Sammler verhökert, nur damit er die Hypothek seines neuen Hauses bezahlen kann? Oder geht die Skulptur doch an Kubashi, der sicher bereits in Soglio angekommen ist? Bietet er Keller mehr als mir? Was ist mit Morandi, was mit Fritschi? Wo ist Lena Kauer geblieben?
Endlich tauchen in der Dämmerung die Lichter von Soglio auf. Den Weg durch die Wiesen kann ich nur noch erahnen. Vor mir die dunklen Umrisse eines Stalles.
Plötzlich ist sie da, die Angst. Sie packt mich mit kalter Faust am Genick, jede Spur von Hoffnung, von Zuversicht zerrinnt. Bisher ist zwar alles gut gegangen. Doch das war Zufall. Und Glück. Ebenso gut kann heute Abend etwas schiefgehen, dann bekommt Mona einen Anruf, ein Beamter teilt ihr mit belegter Stimme mit, dass ich nicht mehr zurückkehren werde. Eine riesige Welle voller Selbstmitleid droht mich mitzureißen und unter sich zu begraben. Am liebsten würde ich umkehren.
Irgendwo ein Rascheln in der Dunkelheit. Lauschend bleibe ich stehen. Nichts. Schlagartig sind die negativen Empfindungen weg, die kann ich mir jetzt wirklich nicht leisten. Vorsichtig gehe ich weiter, bis ich an einer Mauer stehe, die Sinne sind bis zum Zerreißen gespannt. Da ist es wieder. Etwas kommt um den Stall herum. Vorsichtig nehme ich einen scharfkantigen Stein vom Boden auf und lehne mich an die kalte Wand. Nur nicht die Nerven verlieren, Mettler. Weglaufen wäre nun das Dümmste! Warten, nicht voreilig reagieren. Den Atem kontrollieren, die Hand mit dem Stein hebt sich. Da hinten ist es, da, hinter der Ecke, hinter der brockligen Mauer, gleich wird es hier sein!
Ein Hauch von einer Kreatur erscheint in meinem Blickfeld. Ich hole mit dem Stein in der Hand aus, zu spät, denke ich und schlage ins Leere, zu langsam, Mettler, viel zu langsam! Etwas springt gegen meine Brust, ich rudere mit den Armen, verliere den Stein, verliere das Gleichgewicht, will mein Gesicht schützen, doch es ist zu spät. Das dunkle Etwas ist über mir, weiße, spitze Zähne blinken in der Dunkelheit, eine Ewigkeit verstreicht, heißer Atem streift meine Wange, dann leckt eine raue Zunge über mein Gesicht.
Erst weiß ich nicht, wie mir geschieht, dann lache ich erleichtert. »Na, willst du mich fressen?«
Der Hund winselt freudig und schleckt weiter. Ich kraule ihm den Hals und streichle sein Zottelfell. Mit Hunden hatte ich nie Probleme. Seit meiner Kindheit hatten wir Hunde, gut, manchmal wurde ich schon wütend, vor allem, als eines meiner Meerschweinchen gefressen wurde. Sonst aber war ich viel mit den treuen Vierbeinern unterwegs, es gibt nichts Schöneres, als mit einem Hund durch die Berge zu streifen.
Das Tier ist mager, kein Gramm Fett an den Rippen, das Fell ist verfilzt, kein Halsband, keine Hundemarke. In meiner Hosentasche befinden sich noch immer die zwei zerdrückten Brötchen, die ich bei meinem späten Frühstück mit Kubashi eingesteckt und die in der Zwischenzeit ziemlich flachgepresst wurden.
»Verdirb dir nur nicht den Magen, das ist Weißbrot«, warne ich den Hund, der mit Heißhunger die Brötchen verschlingt.
Als ich aufstehe und weitergehe, folgt mir mein neuer Freund auf dem Fuße.
Nach dem Stall wieder offenes Wiesland, dann Gärten, Mauern. Endlich bin ich in
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