Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Augen und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Übelkeit nahm von Minute zu Minute zu. Entschlossen kippte sie den Himbeergeist hinunter. Sie schüttelte sich vor Abscheu, aber er half. Wenigstens in diesem Augenblick.
«Herr Mayer, ich bewundere Sie sehr. Sie nehmen ein ganz großes Risiko auf sich, um jemanden zu schützen, den Sie lieben. Um jemanden zu beschützen, den Sie vor langer Zeit nicht beschützen konnten. So ist es doch, nicht wahr?»
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Schweiß tropfte auf sein Hemd, doch er achtete nicht darauf.
«Nein! Niemals! Es ist alles falsch, was Sie sagen …» Plötzlich brach er in Tränen aus. Er hielt beide Hände vors Gesicht. Laura rückte ihren Stuhl neben seinen Sessel und legte behutsam eine Hand auf seine Schulter.
«Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Mayer. Es ist nicht gut für Ihr Herz.»
Er weinte lautlos, weinte nach innen, nicht nach außen. Laura wartete. Sie hörte die altmodische Standuhr ticken, die mit Hilfe von dünnen Ketten und zwei eisernen Tannenzapfen angetrieben wurde. Sie empfand ein merkwürdiges Gefühl von Gleichzeitigkeit, so, als wäre das Gestern ganz gegenwärtig und das Heute nicht ganz wirklich.
Der alte Mann trocknete mit dem Handrücken seine Augen und schluchzte auf. «Mein Herz ist nicht so wichtig, Frau Kommissarin. Ich hab eh nicht mehr viel Zeit. Ich will nur nicht, dass noch einmal ein Unrecht geschieht!»
«Und dieses Unrecht wäre, dass man Lea Maron des Mordes am Dobler bezichtigt.»
Er nickte.
«Sie war hier, nicht wahr? Bei Ihnen und bei der Frau Neugebauer. Sie wollte sich für Ihre Hilfe bedanken.»
Wieder nickte er.
«Da wussten Sie schon, dass der Dobler vergiftet worden war, weil wir miteinander geredet hatten und mein Kollege Baumann ein paarmal bei Ihnen war.»
Er seufzte tief.
«Da hatten Sie die Befürchtung, dass Lea Maron ihre Mutter gerächt haben könnte, nicht wahr? Und das hat Sie so aufgeregt, dass Sie einen Herzinfarkt erlitten haben.»
Wieder schluchzte der alte Mann auf. Er griff nach Lauras Hand.
«Und als Sie halbwegs genesen waren, haben Sie mir die Geschichten vom Dobler erzählt, damit klar wurde, dass er ein Denunziant war und dass wahrscheinlich einer der alten Nazis ihn umgebracht hat, die er nach dem Krieg verpfiffen hat.»
«Aber ich hätt die Geschichte von der Lea und ihrer Mutter nicht erzählen sollen.»
«Es war gut, dass Sie diese Geschichte erzählt haben, Herr Mayer. Es hat meinen Glauben an die Menschheit ein bisschen stabilisiert, der wackelt nämlich manchmal. Und jetzt lassen Sie uns beide einfach mal nachdenken. Glauben Sie wirklich, dass Lea Maron zurückgekommen ist, um den Dobler umzubringen? Trauen Sie ihr das zu? Dieses erbarmungslose Auge um Auge, Zahn um Zahn?»
Er erschauerte und bat um ein Glas Wasser. Laura holte es aus der Küche. Langsam trank er einige Schlucke und stellte das Glas auf den Tisch.
«Nein», flüsterte er. «Aber ich war mir nicht sicher.»
«Und deshalb wollten Sie die Tat auf sich nehmen, Sie wunderbarer Held.»
Wieder nickte er, und wieder liefen Tränen über sein Gesicht.
«Wissen eigentlich Ihre Kinder, was für einen ganz besonderen Vater sie haben?»
Er zuckte die Achseln.
«Haben Sie Ihren Kindern die Geschichte der Marons erzählt?»
«Nein. Sie sind der erste Mensch, dem ich sie erzählt habe.»
«Und warum?»
«War ja keine Heldentat, ist ja alles schiefgegangen.»
«Aber diese Geschichten müssen Kinder erfahren, Herr Mayer. Die sind ganz wichtig. Dann können Kinder verstehen, warum ihre Eltern manchmal traurig sind. Und sie können stolz auf ihre Eltern sein! Es gibt nicht so viele glorreiche Geschichten aus dieser Zeit!»
Er weinte still vor sich hin.
«Wo ist Lea Maron?»
Er sank in sich zusammen.
«Ist sie noch in Deutschland?»
«Ich weiß es nicht …» Seine Stimme zitterte. «Ich habe sie nur einmal getroffen.»
«Kennen Sie ihren Wohnort?»
«Nein. Ich kenne gar nichts. Ich war nur froh, dass sie lebt und dass es ihr gutgeht. Sie hat Kinder bekommen und ist schon Großmutter. Aber selbst, wenn ich wüsste, wo sie lebt, würde ich es Ihnen nicht sagen, Frau Kommissarin. Lieber würd ich sterben.»
Er umklammerte Lauras Hand.
«Könnten Sie sich vorstellen, dass ich Lea Maron gar nicht finden will?»
«Aber wenn sie es getan hätte?»
Laura lächelte und drückte seine Hand. «Wie schön, dass Sie es nicht waren, Herr Mayer. Vielleicht war es auch Lea Maron nicht. Es sieht nach einer sehr
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