Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hunkelers erster Fall - Silberkiesel

Hunkelers erster Fall - Silberkiesel

Titel: Hunkelers erster Fall - Silberkiesel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schneider
Vom Netzwerk:
stehen, die Pneus fassten nicht.
    Erika stieg aus, stellte sich hinten an und schob mit der ganzen Kraft ihres gewichtigen Körpers, während Erdogan Gas gab. Die Räder rollten langsam übers Blankeis, und Erika stieg wieder zu.
    Sie fuhren über die Hochebene. Ein steifer Wind blies aus Nordwesten, Schneewehen lagen über dem Straßenrand. Die Spur selber war ohne weiteres passierbar.
    Vor dem Dorf Gempen standen Schafe unter einem Apfelbaum. Sie hatten dort das Gras freigescharrt und ästen. Als Erdogan anhielt, hoben sie die Köpfe und schauten aus schmalen Gesichtern herüber.
    »Bäh«, machte Erdogan, »Koyun.« Er zeigte auf die reglos glotzenden Tiere, er lachte, dann fuhr er wieder an.
    Das letzte Stück zum Gasthof hinauf gingen sie zu Fuß. Der Schnee lag kniehoch, es war kälter hier oben, die Luft schien heller und weißer. Vom Himmel war kaum eine schmale Spur zu sehen, so dicht hingen die Äste über die Straße. Wie Weihnachten, dachte Erika.
    An ein Besteigen des Aussichtsturmes war nicht zu denken. Der Schnee war auf den Eisenstreben festgefroren. Die Sicht war so schlecht, dass die oberste Plattform schon fast im Flockengewirbel verschwand.
    Sie standen unten bei der Drehtür, die sich bei Einwurf eines Einfränklers öffnen ließ, wie zu lesen war. Sie schauten hinauf in die elegante Eisenkonstruktion und ließen sich die Flocken aufs Gesicht fallen. Vom Horizont, der sich an schönen Tagen Dutzende von Kilometern über die grün bewaldeten Jurahöhen gegen Westen hinzog, war nichts sichtbar.
    Sie betraten den Gasthof und schüttelten im Vorraum den Schnee von den Mänteln. Dann gingen sie hinein. Es war ein großer Raum, fast ein Saal. An den Wänden standen schwere Holzbänke, über dem runden Tisch in der Mitte hing die einzige Lampe, die brannte.
    Sie setzten sich in ihren Schein. Als die Serviertochter kam, ein junges, hübsches Mädchen mit leuchtend blauen Augen, bestellten sie den Tagesteller mit Brathuhn und Pommes frites. Dann saßen sie da, wartend, auf einmal müde geworden, vom plötzlichen Reichtum verzaubert.
    An diesem Dienstagnachmittag, kurz vor 16 Uhr, entstieg einem Taxi, das soeben vors Hotel Drei Könige gefahren war, eine junge Frau in einem Mantel aus Leopardenimitation. Sie hatte kein Gepäck, keinen Schirm. Auch war ihre Ausstaffierung alles andere als winterfest, die Stöckelschuhe, die feinen Netzstrümpfe, der Mantel, der knapp bis zu den Knien reichte. Sie trat mit dem rechten Bein auf den granitenen Trottoirrand, schob mit einer grazilen Bewegung den Oberkörper heraus und griff nach der Tür, um sich aufzustützen, sie zog das linke Bein nach und richtete sich auf. Das machte sie mit einem so strahlenden Lächeln wie Aphrodite, als sie der Ägäis entstieg.
    Der Concierge des Hotels, der belemmert hinter der Drehtür gestanden war und vermutlich an irgendwelche traurige Familienangelegenheiten gedacht hatte – genau so sah er aus, seine Familienangelegenheiten konnten nicht anders sein als traurig –, erwachte urplötzlich, als ob ein Sonnenstrahl ihn geküsst hätte. Er schob die Drehtür auf, drängte sich hinaus, öffnete einen großen, schwarzseidenen Regenschirm und hielt ihn mit holdseligem Grinsen über die junge Dame, um ihr Haar und ihre Leopardenimitation zu schützen. Sie nickte dankend, sagte dem Taxifahrer, er solle einen Augenblick warten, und schwebte unter dem Schutz des Concierge durch die Drehtür in die Hotelhalle hinein.
    Drinnen bedankte sie sich herzlich. Sie öffnete die obersten zwei Knöpfe der Leopardenimitation, griff mit einer milden Handbewegung hinein und brachte einen gelben Briefumschlag zum Vorschein. Sie bitte höflich, diesen Brief unverzüglich Monsieur Kayat zu überbringen, er warte sehnsüchtig darauf. Aber gern, sagte der Concierge, selbstverständlich und mit dem größten Vergnügen. Er nahm den gelben Umschlag in Empfang und deutete eine schweizerisch knappe Verbeugung an.
    Die junge Frau dankte mit süßer Stimme. Sie schloss sorgfältig die beiden obersten Knöpfe wieder zu, schaute sich kurz um, ob sich eventuell irgendein bekanntes Gesicht in der Halle zeigte. Es zeigte sich keines. Ihr Blick streifte auch über den einsamen Hagestolz, der links hinter der Zimmerlinde auf dem Kanapee saß und Zeitung las. Bei ihm verweilten ihre Augen ein bisschen länger, aber auch ihn schien sie nicht zu kennen. Also schritt sie wieder auf die Drehtür zu, der Concierge hinterher. Er brachte die Drehtür in Schwung, fast zu sehr,

Weitere Kostenlose Bücher