Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
weitgespannten Flügel am Himmel oben, der vorgestreckten Schnäbel und der nachgezogenen Stelzenbeine noch immer vor Augen, weil es eine unglaubliche, kaum fassbare Schönheit gewesen war.
Später waren sie auf einen Tümpel gestoßen, auf ein Stück stilles, ruhendes Wasser, abgetrennt vom Flusslauf durch eine Schlammbank, auf der Weiden wuchsen. Allerlei Papier und Plastikfetzen hingen in ihrem Laub, Zeugen eines Hochwassers, welches das ganze Flussbett überflutet hatte.
Das Wasser in diesem Tümpel war glasklar. Jede Pflanze, die darin wuchs, war zu sehen, in prallem Grün, jede Wasserblüte, als hätte sie in einem Tropenhaus geblüht. Jeder Fisch, der darin stand, war genau erkennbar wie in einem Aquarium. Und ganz nah am Ufer lag ein Egel, ein schwarzer Wurm, reglos, als wäre er ein Stück Holz, aufgetaucht aus einem Kindertraum.
Isabelle fragte, ob sie hineinwaten dürfe. Er nickte. Sie zog sich die Schuhe aus, schürzte den Rock hoch. Sie watete in diesem Tümpel herum, bestimmt eine Viertelstunde lang, mit sichtlichem Vergnügen behutsam Schritt vor Schritt setzend, immer wieder hinüberschauend zu ihrem Vater am Ufer, ob er auch zusehe.
Er schaute zu. Er war hingerissen. Er sah, wie seine Tochter durch diesen durchsichtigen Spiegel schritt, in dem sich der Himmel spiegelte, aus dem heraus die Wasserpflanzen leuchteten, er sah, wie ihre Schritte leichte Wellen über die Oberfläche trieben, die den Himmel und die Pflanzen zum Schaukeln brachten, und er begriff, dass er dieses Kind über alles liebte.
Sie war dann wieder ans Ufer gekommen und hatte sich die Schuhe angezogen, wortlos. Sie waren zurückgewandert zum Auto, zu zweit durch den hereinbrechenden Abend, stumm wie die Fische.
Seit jenem Abend war Hunkeler seiner Tochter mit Zurückhaltung, ja mit Scheu begegnet. Er hatte sich zurückgezogen von ihr, weil er begriffen hatte, dass ihm diese junge Frau nicht mehr gehörte. Nur dieser Abend gehörte ihm, diese Viertelstunde am Wasser mit dem sich teilenden Spiegel.
Inzwischen war Isabelle aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Sie hatte in München eine Graphikschule besucht, war dann nach Basel zurückgekommen und hatte in einem Werbebüro gearbeitet. Als die Alte Stadtgärtnerei besetzt wurde, war sie von Anfang an dabei gewesen und hatte alle ihre Zeit und Energie eingesetzt, gratis selbstverständlich.
Nach der Räumung und Zerstörung war sie ins Ausland gereist. Einmal hatte Hunkeler eine Karte aus Griechenland erhalten. Absendeort war die Insel Ikaria, wo sie offenbar mit einem späten Trupp Hippies in einem Zelt an einem Wasserlauf wohnte, in dem Aale und Schildkröten lebten, wie sie schrieb.
Hunkeler öffnete die Augen wieder. Dieses Einsinken in die Vergangenheit, dachte er, dieses Träumen, bis das Wasser aus allen Erinnerungsfugen tropft, was nützt das? Ich bin Polizist, ich bin auf der Seite der Macht, und ich habe meine Tochter für alle Zeiten verloren.
Damit musste er leben, das wusste er. Er hatte sich eben angepasst, das heißt, er hatte sich anpassen müssen. Was hätte er sonst tun sollen? Wie hätte er das Geld verdienen sollen für seine Familie, für Frau und Kind? »Was soll mir Weib, was soll mir Kind?«, dachte er und grinste kurz und boshaft, als ihm dieser Vers einfiel, den er einmal hatte auswendig lernen müssen. Hätte er vielleicht trotz allem ein Clochard werden sollen in Paris, ein Säufer mit Hut und Mantel und Weinflasche, über dem Metroschacht nächtigend oder unter einer Brücke? Oder wäre er besser ein Sozialfall geworden in der friedlichen Schweiz, ein Obdachloser mit starkem Charakter und unbändigem Freiheitsdrang, aber ohne Geld, herausgefallen aus dem sozialen Netz, wie das amtlich hieß, schikaniert und verjagt von der Polizei?
Nein, das hätte er nicht gekonnt, er war nicht willensstark genug, er war zu schwach. Und auch Isabelle würde sich eines Tages anpassen müssen. Ob ihm das gefiel, ob ihr das gefiel, spielte keine Rolle. Spätestens im Moment, in dem sie ein Kind gebar, würde sie gezwungen sein, sich in die Gesellschaft einzugliedern und ihre Spielregeln zu akzeptieren. An einem Bach auf einer griechischen Insel, in Gesellschaft von Aalen und Schildkröten, zieht niemand ein Kind auf, dachte er, sie muss und wird zurückkommen.
Er merkte, dass ihn seine Gedanken anödeten. Aber er hatte keine anderen zur Verfügung, er musste die nehmen, die ihm einfielen, auch wenn sie reaktionär, ja hoffnungslos waren. Lieber ehrlich und
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