Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
mit den hohen Verwaltungsgebäuden der Chemie, und etwas weiter rechts standen die dunklen Kirchtürme der Altstadt. Ein schönes Bild, dachte Hunkeler, fast ein Stück Heimat.
Erdogan Civil hörte den Wecker rasseln. Er blieb liegen in seiner gekrümmten Stellung, er spürte, wie sich Erikas Leib in seinem Rücken leicht verschob. Das Rasseln hörte auf.
Er behielt die Augen geschlossen und atmete regelmäßig. Er erinnerte sich, geträumt zu haben, irgendetwas von einer Stielhacke, die er auf dem Feld seines Vaters verloren hatte, und doch musste er das Feld hacken, damit neu angesät werden konnte. Es ging aber nicht nur um diese Hacke und um das Feld, es ging noch um etwas ganz anderes, viel Wichtigeres. Und plötzlich war der Stiel der Hacke eine Schlange, die sich bewegte und ihn in die linke Hand biss.
Er versuchte, seine linke Hand zu bewegen. Es ging ohne weiteres, sie war unverletzt. Es war eben nur ein Traum gewesen.
Er war es gewohnt, die verrücktesten Geschichten zu träumen, vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn die schwere Nachtmüdigkeit von ihm gewichen war. Dann war er jeweils beim Aufwachen froh, Erikas Leib neben sich zu spüren. Gegen ihn vermochten die Träume nichts.
Er drehte sich auf die andere Seite, dehnte den Oberkörper und gähnte. Der Stiel einer Hacke, dachte er, der plötzlich eine Schlange wird. So ein Unsinn.
Schlangen hatte er in seiner Jugend genug gesehen, als er im Flussdelta die paar Kühe hüten musste, die sein Vater besaß. Er dachte an das magere Gras auf den Sandbänken, an das knietiefe Wasser, in dem die Kühe standen, um sich in der Hitze abzukühlen, an die Flamingos draußen in der Lagune mit den rosaroten Federn und den Hakenschnäbeln, die blitzschnell in die silbernen Fischschwärme tauchten. Und dann fielen ihm die Diamanten ein, die drüben auf dem Tisch lagen.
Diese Steine waren noch unwirklicher als der verrückteste Traum. Eine Handvoll Kiesel wie geschliffene Wassertropfen, heruntergefallen aus einer schmutzigen Röhre, leuchtend und bläulich blitzend mitten im Unrat, heruntergetropft vor seine Füße, in seine Hand. Das war, als ob ein Stern mitten aus dem Nachthimmel heruntergefahren wäre in die Lagune hinein, mitten unter die Flamingos, die dort auf stelzigen Beinen übernachteten.
Er hatte Glück gehabt, einmal in seinem Leben ein großes, unverdientes Glück. Der Himmel hatte ihn geküsst. Und er wagte sich nicht zu rühren vor Freude und Angst.
Da klingelte das Telefon. Erdogan setzte sich auf und schaute verständnislos zu, wie Erika aus der Küche kam, zum Telefon ging und abhob.
»Ja«, sagte sie, »hier wohnt Erdogan Civil. Einen Moment bitte.«
Sie legte den Hörer neben die Gabel.
»Ein Mann«, flüsterte sie, »er will dich sprechen. Ein fremder Mann, kein Schweizer.«
Erdogan erhob sich und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Ja?«
Er hörte eine ruhige, feste Männerstimme, die sagte: »Hör mal, du armes Türkenschwein. Du arbeitest doch in der Kanalisation.«
»Ja«, sagte Erdogan, und seine Hand zitterte.
»Keine Angst«, sagte die Stimme, »ich tu dir nichts an. Ich will dich bloß informieren. Ich habe eine Handvoll Diamanten verloren. Sehr schöne Ware, sehr viel Geld. Sie liegen in der Kanalisation beim Badischen Bahnhof. Solltest du sie finden, so musst du wissen, dass sie mir gehören. Und dass ich sie zurückhaben will. Begriffen?«
»Nein«, sagte Erdogan, »die gehören mir.«
Er erschrak, er nahm den Hörer in die andere Hand, die weniger zitterte.
»Ach so«, sagte die Stimme. Dann war Stille. Erdogan wollte schon auflegen, aber da meldete sich der Mann wieder.
»Schau an«, sagte er, »du hast sie also gefunden.«
»Nein«, schrie Erdogan, »ich weiß überhaupt nicht, von was Sie reden.«
»Doch, du weißt es genau. Ich begreife gut, dass du sie gern behalten möchtest. Wer möchte nicht gern eine Handvoll Diamanten haben in dieser traurigen Zeit, nicht wahr?« Die Stimme lachte, nicht unfreundlich. »Aber das geht leider nicht. Diese Diamanten gehören nicht dir, sondern mir. Begriffen?«
»Jetzt hören Sie endlich auf, bitte«, flehte Erdogan, »wer sind Sie überhaupt?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte die Stimme leichthin, als hätte sie übers Wetter geredet, »ich bin ein Freund von dir, verstehst du? Und unter Freunden bestiehlt man sich nicht. Das wirst du bestimmt einsehen, nicht wahr? Sonst müsste ich dich bestrafen. Du lebst doch mit einer Frau zusammen, mein Freund? Überlege es
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