Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
hatte gespannt zugehört. »Nein«, sagte sie, und ihr Gesicht war plötzlich müde. Sie nahm ihren Teller, trug ihn in die Küche, kam zurück mit einem Teewärmer und stülpte ihn über den Teekrug. »Sie haben doch nichts dagegen«, sagte sie, »wenn ich mir die Tagesschau ansehe?«
Hunkeler verneinte. Sie schaltete den Fernseher an, genau zur richtigen Zeit. Die Sprecherin am Bildschirm nannte die Themen: Soll die Schweiz dem EWR beitreten? Soll der Staat an die Schwerstsüchtigen Heroin abgeben? Krieg in Jugoslawien. Und das Wetter: Eine Warmluftfront ist im Anzug.
Hunkeler saß im niederen Fauteuil und hörte mit halbem Ohr die Meldungen. Es war alles gesagt, aber er wollte noch eine halbe Stunde auf Erdogan warten.
Er saß gerne hier. Die Frau war ihm angenehm. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ihn besänftigte. Merkwürdigerweise verspürte er nicht die geringste Lust auf eine Zigarette.
Er schaute zum Aquarium auf dem Buffet hinüber, zum Goldfisch darin, der reglos vor einer dunklen Wasserpflanze stand. Aus einem Röhrchen perlte Sauerstoff nach oben, ein Geräusch, das man kaum wahrnahm, so gleichmäßig plätscherte es. Auf dem Grund lag ungefähr fünf Zentimeter hoch schwarzer Sand, fein gemahlen wie Kaffeepulver, und in diesem Pulver hätte man eigentlich einmal nachschauen können, ob dort nicht etwas Glitzerndes, Strahlendes versteckt lag.
Erdogan kam kurz vor acht. Er erschrak sichtlich, als er Hunkeler sah, aber er hatte sich schnell wieder gefasst. Er sei noch ein Bier trinken gegangen, irgendwo in einer Beiz, er habe Durst gehabt, und wenn er Durst habe, pflege er etwas zu trinken.
Hunkeler hatte sich erhoben und schaute zu, wie der kleine Mann den Mantel auszog und aufhängte, wie er die leere Bierflasche aus der Tasche nahm und auf den Tisch stellte, wie er sich setzte und Tee einschenkte. Er tat das ruhig und selbstverständlich. Und ebenso ruhig und selbstverständlich schnitt Frau Waldis ihrem Mann zwei Stück Brot ab, bestrich sie mit Butter, belegte das eine mit Aufschnitt, das andere mit Schachtelkäse und schob sie ihm hin. Er aß, langsam kauend, dann schluckte er und wartete.
Hunkeler stand immer noch. Es war klar, dass er störte. Er zeigte auf seine Karte auf dem Tisch und sagte: »Wenn Sie es sich anders überlegen, so rufen Sie an. Möglichst bald. Denken Sie bitte daran, dass die Polizei dazu da ist, die Leute zu beschützen. Wir sind in der Lage, das jederzeit zu tun. Glauben Sie nicht, dass Sie mit diesen Verbrechern allein fertig werden. Bitte vertrauen Sie mir.«
Er kam sich blöd vor bei diesen Worten, aber sie waren ehrlich. Er fühlte sich als ein Freund und ein Helfer dieser beiden Menschen.
»Sie reden dummes Zeug«, sagte der kleine Mann, »ich verstehe kein Wort.«
»Ich bin vor eineinhalb Jahren in Selçuk gewesen«, sagte Hunkeler, und er wusste nicht, warum er das sagte, vielleicht wollte er einfach Zeit gewinnen, »das war im September, und das Meer war noch warm. Wir wohnten draußen am Strand, und jeden Nachmittag fuhren wir nach Selçuk hinein. Einmal hat uns ein Gemeinschaftstaxi mitgenommen. Das kam aus einem der Dörfer am Rande des Sumpfes, und es war vollgestopft mit Menschen, jungen und alten. Trotzdem nahmen sie uns mit. Es war eine Stimmung in diesem Auto, die vergesse ich nie. Sie war feierlich, fast heilig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich versuche es Ihnen zu erklären. Obschon es bloß ein Ausflug in die nächste Kreisstadt war, war es für diese Menschen eine Reise auf einen andern Kontinent. Ihre Stimmung, die Art, wie sie aus dem Auto schauten, das über den Damm mitten durch den Sumpf fuhr, war andächtig. Andacht, jawohl, das ist das richtige Wort. Verstehen Sie mich?«
»Das Auto war ein Dolmus«, sagte der kleine Mann, »das ist dort üblich.«
»Sie verstehen mich nicht«, sagte Hunkeler, »ich will es Ihnen anders erklären. Wir sind mit einem Mietauto in die Hügel hineingefahren und kamen an einen See. An diesem See stand ein einziges Haus, es war das Haus des Fischers. Am Strand lag ein Boot. Wir haben angehalten und sind zum Wasser hinuntergegangen. Das war voll Leben. Fische, Frösche, Krebse, Molche, und dann die Vögel: Störche, Reiher, Enten. Das war eine völlig intakte Natur, wie zu Salomons Zeiten. Eine Schönheit, der ich kaum gewachsen war. Unweit dieses Sees war ein Dorf, und auf jedem Dach war ein Storchennest. Wir fuhren mitten auf den Dorfplatz und wurden sofort umringt von lachenden, sich freuenden Männern.
Weitere Kostenlose Bücher