Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
Lift und kleinem Balkon. Blödsinn, dachte er, immer diese stupiden Vorurteile.
Er wischte sich am Bastteppich, der vor Erikas Wohnungstür lag, die Schuhe sauber, mehr aus Verlegenheit denn aus Notwendigkeit. Etwas kratzte am Boden, er achtete nicht darauf und klingelte. Die Tür ging auf, und er ging hinein.
Frau Waldis war eine ziemlich dicke Frau mit langem, dunkelblondem Haar. Sie musterte ihn misstrauisch. Sie hatte Angst, das sah Hunkeler genau. Und ebenso genau sah er, wie gut sie diese Angst versteckte.
Er zeigte seinen Ausweis. Sie bat ihn, sich zu setzen. Erdogan sei nicht da, werde aber bestimmt bald kommen.
Auf dem niederen Tisch stand ein Teekrug. Ein Brot lag da, der Rest einer Mettwurst, Aufschnitt, Schachtelkäse, eine aufgeschnittene Zwiebel.
Sie sei am Essen, sagte sie, ob er mithalten wolle?
Danke nein. Aber gegen einen Schluck Tee habe er nichts.
Sie holte in der Küche eine Tasse und schenkte ein. Es war Rauchtee von der besseren Sorte. Dann schaute sie ihn an, unverwandt, ohne ein Wort zu sagen.
Hunkeler legte die Karte mit seinen Telefonnummern auf den Tisch.
»Hier«, sagte er, »das ist meine Büronummer, da bin ich fast immer erreichbar in der nächsten Zeit. Das ist die Nummer meiner Wohnung, und das hier ist die Nummer meines Autotelefons. Unter einer dieser drei Nummern bin ich mit Sicherheit erreichbar, vierundzwanzig Stunden am Tag.«
Erika kaute langsam und gründlich. Das Essen schien ihr kein besonderes Vergnügen zu machen. Sie überlegte. »Warum sollte ich Sie anrufen?«
»Wenn Ihr Freund diese Diamanten gefunden hat, und davon gehen wir aus, so ist er in Gefahr. Wir wissen, dass ein Mann hinter diesen Steinen her ist, ein Profi, und folglich ist er auch hinter Herrn Civil her. Dieser Mann arbeitet im Drogenhandel, und im Drogenhandel gibt es keinen Pardon. Früher oder später wird er herausfinden, dass Herr Civil die Diamanten hat, wenn er sie tatsächlich hat. Aber wie gesagt, wir sind uns fast sicher. Wenn er es weiß, wird er Herrn Civil zwingen, die Steine herauszurücken, und wenn sich Herr Civil weigert, wird er Gewalt anwenden. Das ist der letzte Moment, in dem Sie mich anrufen können. Vielleicht können wir dann noch eingreifen. Viel besser wäre es indessen, wenn Sie uns schon jetzt die Wahrheit sagen würden. Das wäre überhaupt die beste Lösung.«
»Die beste Lösung.« Sie biss ein halbes Stück Schachtelkäse weg und mampfte ausgiebig. »Wer weiß, was das Beste ist? Wollen Sie noch Tee haben?«
Hunkeler nickte, und sie schenkte nach.
»Ich weiß nichts von Diamanten«, sagte sie und schaute ihm geradeheraus in die Augen. Wenn die lügt, dachte er, so lügt sie gut.
»Ist Ihnen an Ihrem Freund in den letzten Tagen nichts Außergewöhnliches aufgefallen«, fragte er, »irgendeine Nervosität oder so?«
»Nein.« Wieder dieser klare, reine Blick.
»Wie war das mit dem Zahnweh gestern? Ist er zu einem Zahnarzt gegangen?«
»Nein. Das Zahnweh hat sich von allein verzogen.«
»Ach, da hat er aber Glück gehabt.« Er nahm die Tasse hoch und trank. Es war wirklich ein speziell guter Rauchtee. »Welcher Zahn war es denn?«
»Hinten oben links«, sagte sie, »ein Stockzahn. Er hat überhaupt schlechte Zähne. Er müsste sie längst flicken lassen. Aber das Geld reut ihn. In der Türkei lebt eine ganze Familie von seinem Geld. Eine Großfamilie mit Onkeln und Tanten und Großtanten. Die leben von dem Betrag, den hier in der Schweiz ein Stiftzahn kostet, ein ganzes Jahr lang. Er hat gesagt, ohne Zahn kann man leben, aber ohne Brot nicht.«
Hunkeler wusste, es hatte keinen Wert weiterzubohren. Die Dame wollte nicht, basta.
»Wo wohnt er in der Türkei?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Selçuk. Das liegt bei Izmir.«
»Ich weiß«, sagte Hunkeler, »in der Nähe von Ephesus. Ich war einmal ein paar Tage dort, am Strand draußen in einem neuen Bungalow-Hotel.«
»Was Sie nicht sagen.« Sie schaute ihn erstaunt an, sie schien plötzlich neugierig zu sein.
»Es gibt Flamingos dort und jede Menge Schildkröten«, erzählte er, »ich habe vier Arten gezählt. Und Störche. Am Abend fliegen sie zu ihren Nestern, die sie auf dem römischen Viadukt mitten in Selçuk gebaut haben. Ein Paradies. Es geht in den nächsten Jahren kaputt. Sie haben einen Damm gebaut mitten durch die Sümpfe hinaus ans Meer. Dort draußen am Strand brennen bereits Straßenlaternen, obschon es noch keine Straße gibt. Aber Sie sind ja sicher auch schon hingefahren.«
Sie
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