Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
Tankstelle?«
»Ja.«
»Gleich dahinter bin ich. Ich habe die Lage im Griff. Übrigens: Der Türke hat einen alten Amischlitten, ein sagenhaftes Modell, richtig heavy. Weiß mit rotem Verdeck.« Man hörte, wie er an der Pfeife sog und Rauch ausstieß.
»Schau an«, sagte Hunkeler, »was für eine Überraschung. Also, bleib dran.«
Er legte auf, startete den Motor und fuhr an. Einen Amischlitten hatte Civil also. Und wann hatte er sich den gekauft? Vielleicht gestern, als er wegen Zahnwehs hinten oben links nicht zur Arbeit erschienen war?
Hunkeler bog in die Rheingasse ein und hielt im Parkverbot gleich hinter dem Taxistand an. Dem Taxifahrer, der ausstieg und ihn wegschicken wollte, hielt er seinen Ausweis unter die Nase. Der Mann salutierte wie im Militär.
Es war noch nicht viel los auf der Gasse, es war zu früh. Oder vielleicht hatten die Sumpfbrüder und Sumpfschwestern für einmal beschlossen, wegen des vielen Schnees zu Hause zu bleiben und hinter dem eigenen Ofen eine Flasche zu höhlen.
Nur die Drogenszene war da. Rechts in der Passage, die zum Rhein führte, standen sie, die Junkies und Dealer. Einer saß am Boden, die Spritze im Arm, tief vornübergebeugt, ein Bild der äußersten Konzentration. Neben ihm hockten andere, rauchend. Jemand ließ ein Tonbandgerät laufen.
Zwanzig Meter weiter vorn auf der linken Straßenseite stand, halb von einem Baugerüst verdeckt, Detektiv-Wachtmeister Madörin, ein Funkgerät in der Hand. Er schaute gebannt auf die andere Straßenseite hinüber, er beobachtete. Dort gegenüber auf dem Trottoir, gleich neben dem Eingang zum Swiss-Chalet, einem volkstümlichen Dancing mit Ländlermusik, saß eine junge Frau im Schnee, die Beine gestreckt, den Rücken an die Hausmauer gelehnt. Ein junger Mann kniete neben ihr, er schüttelte sie, er schlug ihr mit der Hand ins Gesicht, ließ dann ab von ihr, erhob sich und schaute hilfesuchend zu den wartenden Taxis.
Hunkeler stieg aus. Dieses Bild der im Schnee sitzenden jungen Frau mit dem langen schwarzen Haar, er kannte es, es durfte nicht sein. Und doch hatte er für einen kurzen Moment die Gewissheit, dass an jener Mauer seine Tochter Isabelle saß.
Er ging hin, nicht schnell, sondern langsam, lauernd. Er hätte sich hinstürzen und seine Tochter hochreißen, umarmen wollen, aber das Entsetzen hielt ihn zurück. Er sah, dass der junge Mann einen Augenblick lang auf dem Sprung war zu fliehen, dann aber blieb. Hunkeler beugte sich nieder zu der Frau, deren Gesicht vom Haar verdeckt war. Er schob vorsichtig dieses Haar beiseite, er sah in ein fremdes Frauengesicht.
Es war nicht Isabelle.
Der Atem der Frau ging langsam, viel zu langsam. Ihr Gesicht hatte im Schein des Straßenlichts einen bläulichen Schimmer.
»Überdosis«, sagte der junge Mann, »sie ist meine Freundin. Können Sie helfen?«
Hunkeler nickte. Er ging über die Straße zu Madörin, riss ihm das Telefon aus der Hand und rief die Sanität an. Dann trat er wieder zu der Frau, die die Augen noch immer geschlossen hatte. »Umarmen Sie sie«, sagte er zu ihrem Freund, »wärmen Sie sie. Schlagen Sie sie ins Gesicht, aber nicht zu hart.«
Er zog seinen Mantel aus und half, sie notdürftig hineinzuwickeln. Ihr rotes, gestricktes Halstuch hatte sich gelöst und lag im Schnee. Er hob es auf, rollte es zusammen und schaute zu, wie der junge Mann seine Freundin umarmte und mit dem Handrücken hilflos ins Gesicht schlug.
Madörin kam herüber. »Ich habe gedacht, die schläft. Ist es schlimm?«
»Wenn sie stirbt«, sagte Hunkeler, »bist du wegen Unterlassung von Nothilfe dran. Das schwöre ich.«
Madörin verzog den Mund und spuckte in den Schnee. »Die stirbt nicht, die sind zäh.« Es ging ihm nicht gut. Er stand da wie ein ungeliebter Onkel. »Es ist nicht meine Schuld, wenn sich jemand vollpumpt.«
Der Sanitätswagen war in fünf Minuten da. Als die Frau eingepackt war, sagte Hunkeler zum jungen Mann: »Fahren Sie mit. Bleiben Sie bei ihr. Und passen Sie um Gottes willen besser auf.«
Hunkeler fuhr über die Wettsteinbrücke nach Großbasel hinüber. Er musste jetzt mit jemandem reden, mit Bekannten, mit Freunden. Er brauchte normale menschliche Gesellschaft.
Wenn der Stoff vom Staat kontrolliert abgegeben würde, dachte er, würden diese Unglücksfälle nicht passieren. Aber das war offenbar egal. Eine Heroinleiche mehr oder weniger störte das öffentliche Gerechtigkeitsempfinden nicht, die waren ja selber schuld.
Wenn aber diese junge Frau dort im
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