Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
was?«, fragte sie, als sie im Bett lag und auf ihn wartete. »Wir fahren morgen einfach weiter, bis nach Paris, und dann noch weiter bis ans Meer. Ich möchte mit dir die Wellen rauschen hören.«
Er legte sich zu ihr, behutsam und lieb. Er küsste sie, sie küsste zurück, mit scheuer, flinker Zunge. Es war wie immer, aber doch nicht ganz. Etwas war neu an ihm. Oder lag es an ihr?
»Weißt du, was?«, flüsterte sie.
»Nein, aber sag’s.«
»Es geht besser im Hotel. In einem fremden Bett.«
Mitten in der Nacht erwachte Erika. Sie hatte geträumt. Einen Fisch hatte sie herumschwimmen sehen in sauberem, klarem Wasser, irgendwo im Meer. Dieser Fisch war wundervoll anzuschauen gewesen, ruhig und stolz war er zwischen den Wasserpflanzen geschwebt. Auf dem Grund oder in einer Höhle hatte eine Art Riesenkrake gelauert, ein fürchterliches Ungeheuer, unerlöst und bösartig, auf Leben und Tod angewiesen auf diesen Fisch. Das Ungeheuer war siegessicher und seltsam traurig gewesen. Und der Fisch hatte leicht seine Flossen bewegt.
Sie hörte das Rauschen des Baches, sie hörte Erdogan atmen. Sie griff zur Uhr auf dem Nachttisch, es war kurz vor drei. Draußen war ein Geräusch zu hören, als ob jemand Stoff entzweirisse. Sie bewegte sich nicht. Sie wartete und hoffte, dass das Geräusch aufhören würde. Es hörte nicht auf. Dort draußen verrichtete jemand gründliche Arbeit. Dann hörte sie ein leises Pfeifen und Zischen, als ob Luft entweichen würde. Das Zischen wiederholte sich, einmal, zweimal, dreimal. Sie erhob sich leise, sie wollte Erdogan nicht wecken. Sie machte kein Licht, sie trat in der Dunkelheit ans Fenster.
Unten stand das Cabriolet, halb verdeckt von einem Baum. Im Schimmer der Straßenlaterne sah sie, dass das rote Faltdach kaputt war, zerfetzt und zerstückelt. In den Reifen war keine Luft mehr. Sie waren geschrumpft, zerstochen, platt.
Ein roter Kleinwagen mit Antenne stand daneben, die Lichter abgeschaltet. Nach einer Weile wurde sein Motor gestartet, leise, kein Vollgas, der Fahrer wollte niemanden wecken. Oder doch? Dann fuhr das kleine Auto weg, noch immer ohne Licht, ein stiller Schatten auf der Straße.
Erika wartete, bis sie den Motor nicht mehr hörte. Sie fror in der Nachtluft, sie zitterte plötzlich vor Kälte. Behutsam ging sie ins Bett zurück, sie legte sich zu ihrem Mann, ohne ihn aufzuwecken, sie spürte seine Wärme und schlief ein.
Als Erika am andern Morgen erwachte, stand Erdogan am Fenster und schaute hinaus. Sie hörte die Kirchenuhr schlagen, neun Mal. Sie setzte sich auf.
»Das Auto ist kaputt«, sagte er dumpf, »jemand hat das Verdeck zerstochen und die Reifen.«
»Ich weiß. Ich habe ihn gesehen.«
»Was? Bist du wahnsinnig? Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Es war kurz vor drei. Ich bin erwacht und habe hinausgeschaut. Es war der rote Kleinwagen mit der Antenne.«
Er schloss das Fenster, setzte sich auf das Bett und legte das Kinn in die Hände. Sie betrachtete seine Füße, es waren Patschfüße. Der rechte große Zehennagel war blau unterlaufen.
»Das war der fremde Mann«, sagte er, »er lässt mich nicht los. Er verfolgt mich. Er weiß immer, wo ich bin.«
»Ich hab es dir gesagt. Nächstes Mal, wenn er dich anruft, musst du mit ihm reden.«
»Er wird mich nicht mehr anrufen. Weil ich mich verstecke. Er wird mich nicht mehr finden.«
»Du bist und bleibst ein Kindskopf«, sagte sie und streichelte seinen Rücken, »aber du bist lieb.«
Er schaute sie an, hilfesuchend, die Angst hatte ihn wieder gepackt.
»Was ist ein Kindskopf?«, fragte er.
»Das ist einer«, sagte sie, »der sich unheimlich freuen kann über etwas, was ihm gar nicht gehört.«
Er überlegte, er weinte fast. »Wir gehen heute beide nicht zur Arbeit«, entschied er dann, »wir bestellen ein Taxi und fahren zu Muhammed Ali ins Café. Dort bleiben wir bis morgen früh. Ich hole in der Garderobe die Diamanten. Dann fahren wir zum Bahnhof, steigen in den Zug nach Kloten und fliegen nach Izmir. Das ist ein guter Plan. Einverstanden?«
Sie umschlang seinen Hals, küsste seinen Nacken. »Du bist dumm. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass er dich auf keinen Fall gehen lässt, ohne dass du ihm zuvor die Diamanten übergibst. Aber du bist sehr lieb, zu mir jedenfalls. Weißt du das?«
Er versuchte, trotz seiner Angst zu lächeln.
»Reichtum macht nicht nur stark wie eine ganze Herde«, sagte er, »sondern Reichtum macht auch zärtlich und geil. Das ist auf der ganzen Welt so, bei
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