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Hunkelers erster Fall - Silberkiesel

Hunkelers erster Fall - Silberkiesel

Titel: Hunkelers erster Fall - Silberkiesel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schneider
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verstanden.
    Als sie erwachte, war es draußen dunkel. Die Musik war noch immer da. Das Stimmengewirr hatte zugenommen, das Café war bis auf den letzten Platz mit rauchenden, Karten spielenden, redenden Männern besetzt. Nur die Ecke, wo sie geschlafen hatte, war frei.
    Sie griff in Erdogans Jacke, langsam, damit es nicht auffiel. Sie suchte und fand die Garderobenschlüssel und nahm sie heraus. Dann erhob sie sich. Sie nahm den Mantel, die Tasche und den Plastiksack mit dem Gemüse und ging zu Erdogan hin.
    »Danke für deine Jacke«, sagte sie. »Ich will hier nicht übernachten, es ist mir zu laut.«
    Er schaute hoch, verlegen. Die Männer schwiegen plötzlich alle.
    »Du darfst heute Nacht nicht in unserer Wohnung übernachten«, sagte er, »das ist unmöglich, das ist zu gefährlich.«
    »Ich fahre zu Nelly. Dort bin ich so sicher wie hier. Morgen um sieben bin ich wieder da.«
    Es war ihm peinlich, das war deutlich zu sehen. Er überlegte. »Gut, meinetwegen. Bis um sieben. Aber nimm ein Taxi, nicht das Tram.«
    Sie hätte ihn gerne geküsst, auf die Stirnglatze, auf den Mund. Sie traute sich nicht.
    »Güle güle«, sagte sie und versuchte zu lächeln. Er erhob sich nicht, er blieb sitzen, und sie ging hinaus.
    Die Straße war noch ziemlich belebt. Ein warmer Wind blies und klebte ihr die Mantelenden an die Waden. Sie ging hinunter auf den Platz zum Taxistand und setzte sich in einen Wagen. »Zur Hochbergerstraße«, sagte sie, »zur Garderobe der Kanalarbeiter, bitte.«
    Der Fahrer überlegte. »Das müssen die Städtischen Wasserwerke sein«, murmelte er griesgrämig, »das Bauamt, oder wie heißt das genau?«
    »Fahren Sie nur an die Hochbergerstraße, ich weiß dann schon, wo es ist.«
    Der Wagen fuhr an, rollte durch die dunklen Straßen, überquerte den Rhein und bog in die Hochbergerstraße ein. Sie schaute kein einziges Mal zurück, es war ihr egal, wenn sie verfolgt wurde.
    »Hier ist es. Warten Sie bitte. Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
    Der Fahrer griff nach hinten, öffnete ihr die Tür und ließ sie aussteigen. »Die Uhr läuft weiter«, sagte er, »und lassen Sie bitte Ihre Taschen im Wagen.«
    Sie ging über den Vorplatz und öffnete die Tür. Sie machte kein Licht, der Schein von draußen genügte. Sie öffnete Erdogans Kasten, nahm den Sack mit den Diamanten heraus, stopfte ihn in die Manteltasche und sperrte wieder zu.
    Der Fahrer schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an, als sie wieder einstieg. »Was haben Sie dort drüben gemacht, wenn man fragen darf? Pilze gesucht um diese Jahreszeit?«
    »Das geht Sie nichts an«, sagte sie ruhig und nannte ihm Nellys Adresse.
    Sie weinte fast, als er weiterfuhr, sie spürte an der Hand, die in der Manteltasche steckte, die geschliffenen Kanten der Diamanten. Stark wie ein Pferd, dachte sie, stark wie eine Herde von wilden Mustangs, die Mähnen flattern, die Erde bebt.
    Aber sie blieb fest.
    Nelly war schon im Pyjama, als sie öffnete. »Du?«, fragte sie. »Habt ihr Streit?«
    »Ich bin müde«, sagte Erika, »ich erzähle dir alles später. Kann ich bei dir schlafen?«
    »Immer, das weißt du.«
    »Ich muss kurz auf die Toilette«, sagte Erika.
    »Mach wie zu Hause. Es kommt übrigens ein Krimi nach der Tagesschau. Den sehen wir uns an, wenn du willst.«
    Erika ging auf die Toilette und sperrte die Türe zu. Sie nahm den Plastiksack aus der Manteltasche und leerte die Steine ins Klo. Sie lagen im fingerhohen Wasser, blitzend, bläulich schimmernd. Wie Silberkiesel, dachte sie. Sie zog den Spülknopf hoch, das Wasser rauschte, die Steine waren weg. Sie warf den leeren Plastiksack in den Abfalleimer, wusch sich die Hände und schaute sich im Spiegel an. Die Nase war immer noch zu groß, aber die Augen waren von einer gelbgrünen Helle, die ihr gefiel.
    An diesem Abend war Hunkeler der Verzweiflung nahe. Nichts hatte sich gerührt, keine neue Spur war gefunden, keine Frau Waldis hatte angerufen. Die Durchsuchung der Wohnung hatte nichts zum Vorschein gebracht, keine Diamanten, keine verdächtige Adresse, nichts.
    Er fühlte sich halb krank und uralt. Ein alter Bock, weich im Hirn, weich im Schwanz, weich in den Knien. Und doch war er sicher, dass er das einzig Richtige tat.
    Er hatte drei Krüge Tee getrunken und eine Tafel Schokolade gegessen, sonst nichts. Er hatte sich nicht gewaschen und nicht rasiert. Mochte wachsen, was wachsen wollte, Haare, Finger- und Zehennägel. Er hatte nur Verachtung übrig für diese Wachserei, für seinen

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