Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
stellte sie die erste Nummer von Kommissär Peter Hunkeler ein. Als er sich meldete, sagte sie laut und deutlich, damit er alles genau verstand: »Sie haben ihn geschnappt, zwei Männer. Sie haben ihn zusammengeschlagen. Er ist der Meinung, die Diamanten seien in seinem Garderobenkasten an der Hochbergerstraße. Sie sind aber nicht dort.«
»Wo sind sie denn?«
»Das sage ich Ihnen später. Sie werden ihn quälen, und er wird sie zur Garderobe führen. Sie müssen hinfahren und ihn retten, sofort.«
»Danke«, sagte Hunkeler und legte auf.
Sie war plötzlich todmüde, sie musste sich setzen. Ihre Knie begannen zu zittern. Sie schlotterte, wie sie noch nie geschlottert hatte. Sie umarmte ihren Kopf, wiegte ihn hin und her.
Jemand näherte sich und blieb neben ihr stehen. Es war Muhammed Ali. Er stellte ein Glas Tee vor sie hin, misstrauisch und scheu.
»Was ist geschehen?«, fragte er. »Haben sie ihn geschnappt?«
Sie nickte, suchte das Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab. »Er ist selber schuld. Er ist der sturste Bock, den ich je gesehen habe, der Idiot.«
»Du hast die Polizei angerufen, nicht wahr?«
Sie nickte wieder und schlürfte vom Tee.
»Und jetzt? Was machen sie mit ihm?«
»Sie bringen ihn nicht um, weil er nicht weiß, wo die Diamanten sind. Sie bringen ihn erst um, wenn sie die Diamanten haben. Und die werden sie nie haben.«
»Erdogan ist mein Freund«, sagte er leise, »und du bist hier in der Schweiz seine Frau. Du stehst unter meinem Schutz, solange er nicht da ist. Verlass dich auf mich, ich bin ein Mann von Wort. Aber sag mir, wo die Diamanten sind.«
Sie stellte das leere Teeglas hin, nahm die Puderdose hervor und tupfte sich die Wangen ab. Sie zog mit dem Stift die Lippen nach, musterte sich sorgfältig im Taschenspiegel. Alles war in Ordnung, keine Tränen mehr, helle Augen wie Bernstein.
»Das sage ich dir später. Jetzt ist nicht die Zeit dazu. Jetzt gehe ich nach Hause und warte auf meinen Mann.«
Sie erhob sich, ergriff den Koffer und die Taschen und ging hinaus.
Ein roter Kleinwagen fuhr in scharfem Tempo durch die Hochbergerstraße, bremste ab und hielt auf dem Vorplatz der Kanalarbeiter-Garderobe an. Der Fahrer, ein jüngerer brauner Mann in hellem Kamelhaarmantel, stieg aus und klappte den Sitz nach vorn. Aus dem Fond schob sich ein bulliger Glatzkopf, dehnte seinen Oberkörper, spuckte auf den Boden, beugte sich in den Wagen zurück und zog einen kleinen Mann heraus, dessen linkes Auge blau verschwollen war. Ein feiner Faden Blut klebte an seinem Kinn.
»Los«, sagte der Glatzkopf, »jetzt zeig uns die Diamanten.«
Die drei gingen zur Eingangstür. Der kleine Mann suchte etwas in seiner Jackentasche. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe die Schlüssel verloren. Ich habe keine Ahnung, wo sie sind, ehrlich nicht.«
Der Glatzkopf trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und rammte mit voller Wucht seine rechte Schulter gegen die Tür. Sie sprang auf, die drei gingen hinein.
Eine dunkelblaue Limousine englischen Fabrikats glitt langsam auf den Vorplatz. Am Steuer saß ein ziemlich fetter Mann. Er stellte den Motor ab, wartete, schaute hinüber zur offenen Garderobentür. Von dort drinnen war ein Knirschen zu hören, ein leises Krachen, als ob jemand ein Schloss aufbräche. Dann war Stille.
Der Mann in der Limousine trommelte nervös auf das Steuerrad. Er öffnete die Tür, um besser hören zu können. Er sah, wie die drei Männer wieder herauskamen, als Erster der Glatzkopf, der den kleinen Mann mit sich zerrte. Er schüttelte ihn, er schlug ihm die flache Hand ins Gesicht.
»Du Schwein, du Verbrecher«, schrie er, »ich prügle die Diamanten aus dir heraus.«
Der kleine Mann erhob die rechte Hand zum Schwur.
»Bei meiner Mutter«, sagte er, »ich weiß nicht, wo die Diamanten sind.«
Da stieg der Mann in der Limousine aus und ging auf die Gruppe zu. »Was ist los«, fragte er, »habt ihr sie endlich?«
»Nein«, sagte der Glatzkopf, »die Sau hat uns belogen.«
»Was soll das heißen?«, fragte der Mann, bleich vor Wut.
»Das soll heißen«, meldete der Glatzkopf, »dass keine Diamanten in seinem Garderobenkasten liegen.«
Der fette Mann japste nach Luft. »Das ist kriminell«, schrie er, »das ist nicht gestattet. Sie leben in der freien Schweiz, und hier bei uns wird nicht gestohlen.« Er griff in die Jackentasche, nahm eine schwarze Browning heraus und schlug sie dem kleinen Mann über den Schädel. »Heraus mit der Sprache«, schrie er,
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