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Hurra wir kapitulieren!

Hurra wir kapitulieren!

Titel: Hurra wir kapitulieren! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henryk M. Broder
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Kapitän der »Titanic«, der das Bordorchester aufspielen lässt, um den Passagieren den Untergang so angenehm wie möglich zu gestalten.
    Man könnte natürlich den kleinen Spielraum, der übrig geblieben ist, auch anders nutzen. Wenn man kaum noch etwas zu verlieren hat, kann man sich mehr Mut erlauben. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hätte vor Jahren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels statt an die »Islamkennerin« Annemarie Schimmel an den von Islamisten bedrohten Salman Rushdie verleihen und damit demonstrieren können, was der Börsenverein von der Todesfatwa gegen Rushdie hält, die von Frau Schimmel mit großem Verständnis kommentiert wurde. Die deutschen Zeitungen hätten, statt »Jyllands-Posten« allein zu lassen, die Mohammed-Karikaturen nachdrucken sollen, nicht nur als eine Kundgebung der Solidarität, sondern auch als Warnung an den islamistischen Volkssturm: Ihr könnt toben, so viel Ihr wollt, wir lassen uns nicht beeindrucken und nicht erpressen. Jede Konzession, jeder Artikel, in dem davor gewarnt wurde, Öl ins Feuer zu gießen, jede Entschuldigung eines Politikers oder Firmenmanagers, die sich um einbrechende Umsätze und Gewinne sorgten, war eine Aufforderung an den rasenden Mob, weiter zu machen.
    Wie der Genösse Zufall es wollte, kamen im Frühjahr 2006 drei mediale Großevents zusammen: der Karikaturenstreit, die Diskussion um Ehrenmorde und andere Familienverbrechen in »Migrantenfamilien« und die Entdeckung, dass es an vielen deutschen Schulen zugeht wie in einem Piranha-Becken. Allen gemeinsam war, dass sie erstens um das Thema »Gewalt« kreisten und zweitens nichts als Ratlosigkeit evozierten.
    Ende März wurde bekannt, dass die Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln im Auftrag der Lehrerkonferenz einen Brief an den Schulsenator geschrieben und ihn gebeten hatte, die Schule aufzulösen. In dem Brief hieß es, ein geordneter Unterricht finde nicht mehr statt, die Stimmung sei geprägt von Zerstörung, Gewalt und menschenverachtendem Verhalten, Lehrer würden ignoriert und oft auch attackiert, in bestimmte Klassen gingen sie nur noch mit Handys, um im Notfall Hilfe holen zu können. Die Belastung sei unerträglich geworden, die Schule am Ende der Sackgasse angekommen, die Lehrer am Rande ihrer Kräfte.
    Der Anteil der Kinder deutscher Herkunft an der Rütli-Schule, also ohne »Migrationshintergrund«, liegt knapp unter 20 Prozent, der Anteil der Kinder »arabischer Herkunft« dagegen bei 35 Prozent, der »türkischer Herkunft« bei 26 Prozent. Wer unter solchen Umständen den Ton auf dem Schulhof angibt und wer ein »Integrationsproblem« hat, liegt auf der Hand. Die Schüler deutscher Herkunft werden als »Schweinefleischfresser« beschimpft; sie versuchen, sich der Mehrheit anzupassen, indem sie bewusst gebrochen Deutsch sprechen, um weniger aufzufallen.
    »Das hat es selbst in Berlin noch nicht gegeben: Verzweifelte Lehrer fordern die Behörden auf, ihre völlig in Gewaltexzessen versinkende Schule komplett aufzulösen«, staunte ein Kommentator des Berliner »Tagesspiegel«.
    Der »Notruf aus Neukölln« löste eine Diskussion über die Zustände an deutschen Schulen mit einem hohen Anteil an »Migrantenkindern« aus. Die Rütli-Schule war nur die Spitze eines Eisbergs, der größer war und tiefer reichte, als alle angenommen hatten. Selbst der Berliner Schulsenator war oder tat überrascht. Er habe, erklärte er, von den Vorgängen erst aus der Zeitung erfahren. Alle fragten: Wie konnte es so weit kommen? Was ist nur schief gelaufen? Und was muss jetzt unternommen werden, damit es nicht noch schlimmer wird.
    Es war eine jener redundanten Debatten, wie sie immer wieder in unregelmäßigen Abständen ausbrechen, mal über die Leitkultur, mal über den Patriotismus und mal eben über die Gewalt an den Schulen. Aber diesmal war ein Detail anders. Man sprach nicht nur über den »Migrationshintergrund«, es wurden auch die beteiligten Eth-nien beim Namen genannt. »Früher haben die Türken die Afrikaner gejagt«, erzählte ein Anwohner einer Berliner Zeitung, »jetzt jagen die Araber die Türken«.
    So wurde der Begriff »Multikulti« mit neuem Leben gefüllt. An der Rütli-Schule wurden »polizeiliche Eingangskontrollen« eingerichtet, die Schüler nach Waffen gefilzt, dazu zwei Schulpsychologen abkommandiert, um das Kollegium zu stabilisieren, und zwei Sozialarbeiter, die Türkisch und Arabisch sprechen, um unter den Schülern zu vermitteln.
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