Hypnose
gewesen, sondern in einem Krankenhaus. Nein, so ähnlich. Es musste in Evelyns Praxis gewesen sein! Wie sonst hätten Evelyn und ihr Vater, Doktor Brunner, anwesend sein können? Das muss kurz vor seiner Erkrankung gewesen sein. – Annabel und Jannis hatten sie in Evelyns Praxis gefahren, als die Fruchtblase geplatzt war, weil Peter arbeiten musste. Nein, weil er nicht erreichbar gewesen war. Dieses Erinnerungsstück stand ihr jetzt glasklar vor Augen. Peter war nicht erreichbar gewesen . Nur was war danach geschehen?
Hatte sie durch ihre mangelnde Kooperation, durch die überflüssige Diskussion, wertvolle Zeit verstreichen lassen? Sekunden, die vielleicht das Leben ihres Sohnes gerettet hätten? Nur, wer wünschte ihr jetzt den Tod? Evelyn, weil sie um ihren Ruf fürchtete, da ein Neugeborenes unter ihren Händen gestorben war? Hatte Jannis in den folgenden Minuten etwas mitbekommen, was er besser nicht gesehen oder gehört hätte? Und musste er deshalb sterben? Und sollte auch sie sich besser nicht daran erinnern?
Unvermittelt durchfuhr Inka wieder der Gedanke: Was, wenn ihr Sohn tatsächlich gar nicht gestorben war? Wenn er noch lebte?
Das war ein Wunschgedanke. Inka konnte sich sehr wohl an die Beerdigung erinnern. Lückenhaft zwar, was bei ihrem damaligen seelischen Zustand nicht verwunderlich war, aber das offene Grab mit dem kleinen Sarg konnte sie deutlich vor sich sehen. Nur warum hatte sie die ganze Zeit geglaubt, und das auch unter Hypnose, die Geburt hätte in ihrem Wohnzimmer stattgefunden? Peter hatte ihr nie widersprochen. Um die Regeln dieses grausamen Spiels endlich zu verstehen, musste sie auf der Stelle raus hier.
»Sie möchten also auf eigenen Wunsch entlassen werden?«
Inka versicherte dem Arzt noch einmal, dass sie stabil genug sei und auf eigenen Wunsch die Klinik verlassen wolle. Inka ließ sich darauf ein, eine Überweisung zum Psychiater entgegenzunehmen und unterschrieb den Zettel. Dann setzte sie ihre Füße auf den Boden …
Erst als Inka auf dem schmalen Beifahrersitz in Andis Auto saß, einem roten NSU Prinz 4, und sie unter dem hell ratternden Motorgeräusch aus der Tiefgarage des Krankenhauses fuhren, entspannte sie sich etwas. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er auch einen Oldtimer fuhr und noch dazu vom selben schwäbischen Hersteller wie ihre Quickly.
»Baujahr 1971, so alt wie ich«, hatte er ihr beim Einsteigen ins Auto gesagt, »hat sich aber besser gehalten.«
Privat wusste Inka kaum etwas über ihn, nur die wenigen Dinge, die Peter ihr erzählt hatte. Andi hatte seine Verlobte Yvonne bei einem Verkehrsunfall verloren, er war selbst am Steuer gesessen und hatte schwer verletzt überlebt. Daher auch seine sichtbaren Narben an der Stirn und den Unterarmen. Der Wagen, mit dem sie in voller Wucht kollidierten, war bei Rot in die Kreuzung eingebogen. Als sich ihr Auto überschlug, war Yvonne aus dem Auto geschleudert und tödlich verletzt worden. Das musste jetzt zehn Jahre her sein. Seither hatte Andi keine Freundin mehr gehabt, zumindest jedenfalls keine nennenswerte Beziehung.
Schweigsam fuhren sie aus der Stadtmitte in südöstliche Richtung die kurvige Neue Weinsteige hinauf in die Abenddämmerung. Der Gedanke, dass ihr Kind womöglich noch lebte, ging Inka nicht mehr aus dem Kopf. War die Beerdigung eventuell eine Inszenierung gewesen? Oder hatte sie nur in ihrem Kopf stattgefunden? Wie oft hatte sie sich nach dem traumatischen Erlebnis gewünscht, Jonas würde noch leben! Mühsam und unter grausamen seelischen Schmerzen hatte sie jedoch die Realität anerkannt, um selbst weiter existieren zu können. Ja, anfangs war es wirklich nur ein reines Dahinvegetieren gewesen, bis ihre Kraft nach und nach zurückgekehrt war. Und wäre der Mord an Jannis nicht geschehen, wäre sie wohl immer noch auf dem Weg der Besserung, und es würde keinen Mörder geben, der es auf sie abgesehen hätte.
Unausgesprochen hing in der Enge des Wagens die Frage in der Luft, wann Peter sich endlich melden würde. Erreichbar war er nämlich noch immer nicht. Der Plan war, dass sie kurz zu Andi in die Wohnung fuhren, um seinen Kater zu füttern, dann weiter in ihr Haus am Botnanger Sattel. Notfalls wollte er die Nacht über bei ihr bleiben, falls Peter erst am nächsten Tag wieder auftauchen würde. Andi kannte nicht den Grund, weshalb sie sich gestritten hatten, aber er war sich sicher, dass sein Kollege erst mal eine Auszeit brauchte und womöglich im Hotel übernachtete.
»Morgen früh
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