Iacobus
identifizieren ich nicht in der Lage war, weshalb ich Jonas auf die Straße hinunterschickte – er verschwand äußerst zufrieden, da er sich jetzt so frei wie ein Vogel fühlte und große Abenteuerlust verspürte – und mich bequem hinsetzte. Die Augen halb geschlossen, nahm mein ganzer Körper eine meditative Haltung ein, um Gedanken und Gefühle zu ordnen, die mein Innerstes seit einiger Zeit schon bewegten, ohne daß ich ihnen viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Ich hatte meine Studien der Kabbala vollkommen vernachlässigt – das › Sepher Jezira ‹, das Buch der Schöpfung, und das ›Sohar‹, das Buch des Urgrunds – ebenso wie ich meine seelische Entwicklung und die meines Geistes außer acht gelassen hatte, oder auch die Zwiesprache mit Gott … Ich befand mich in einem Zustand höchster Erregung. Erinnerungen an meine Vergangenheit quälten mich, als wäre ich eine Burg, die von einem mächtigen Heer gespenstischer Gefolgsleute belagert wird. Ich benötigte etwas Ruhe. Darum konzentrierte ich mich zunächst auf meine Atmung und danach auf meine beängstigenden Gefühle. Nun war ich in meiner Innenwelt angekommen. Beruhige dich, Galcerán, du mußt deine Gelassenheit wiederfinden, sagte ich mir, es paßt nicht zu dir, dich von diesen bitteren Gefühlen hinreißen zu lassen. Du wirst zur Ruhe kommen, wenn du nach Rhodos zurückfährst, die Hänge des Ataviro wieder hinaufkletterst, dich an den feinen Sandstränden ausruhst und dem Meeresrauschen des Dodekanes lauschst … Aber um nach Rhodos zurückkehren zu können, mußt du so schnell wie möglich das beenden, was dir Seine Heiligkeit aufgetragen hat, und Jonas zu seinen Großeltern nach Taradell bringen. Danach wirst du aufs neue deinen inneren Frieden finden.
Ich blieb lange Zeit in mich gekehrt und hielt mit mir Zwiesprache, bevor ich wieder emportauchte und Gott dankte, etwas Ruhe gefunden zu haben. Dann ging ich den Pfad der Konzentration zurück, atmete tief ein und streckte und dehnte meine Glieder und den Hals.
»Gott sei Dank!« seufzte Jonas erleichtert. »Ich glaubte schon, Ihr seid tot. Ehrlich.«
»Was zum Teufel treibst du denn hier?« fragte ich überrascht. »Hatte ich dich nicht hinausgeschickt?«
»Ich war draußen«, beteuerte er. »Ich habe ein Puppentheater in der Bûcherie gesehen und den operarii , von Notre-Dame beim Bau der Strebebogen zugeschaut. Es ist drei Uhr nachmittags, Sire. Seit einer Stunde beobachte ich Euch. Was für eine Art von Gebet habt Ihr da gerade verrichtet? Nicht einmal Eure Augenlider bewegten sich.«
»Von Beatrice d'Hirson ist ein Brief gekommen«, gab ich als einzige Antwort.
»Ich weiß, ich habe ihn gesehen. Er liegt dort, auf Eurem Schreibpult. Gelesen habe ich ihn allerdings nicht; was steht denn drin?«
»Sie möchte uns heute abend sehen, zur Vesper, gegenüber der Zugbrücke des Louvre.«
»Außerhalb der Stadtmauern?« fragte Jonas erstaunt.
»Sie wird uns in ihrer Kutsche abholen. Vermutlich ist ihr für unser Treffen kein Ort geeignet erschienen, den sie für vollkommen sicher hält, deshalb, fürchte ich, werden wir wohl während unserer Unterhaltung einige Runden um das suburbium fahren.«
»Wie wunderbar! Die Kutschen der Höflinge sind so bequem wie die Gemächer eines Prinzen, Sire!«
»Was weißt du schon von Prinzengemächern, wenn du noch nichts von der Welt gesehen hast, Jonas, du hast doch gerade erst deine Klostermauern hinter dir gelassen«, brach es ungerechterweise aus mir heraus.
»Euer seltsames Gebet hat Euch nicht gerade entspannt.«
»Mein seltsames Gebet hat dazu gedient, zu begreifen, daß das einzig Wichtige für mich gerade ist, diese verdammte Mission zu beenden, den Papst und den Großkomtur über deren Ergebnisse in Kenntnis zu setzen und schnellstmöglich nach Hause, nach Rhodos zurückzukehren.«
»Und ich?« fragte er.
»Du? … Glaubst du etwa, daß ich mich für den Rest meines Lebens mit dir belaste?«
Es war offensichtlich, daß ich äußerst schlecht gelaunt war.
In den Straßen von Paris herrschte grimmige Kälte. Aus unseren Mündern traten dampfende Wolken, während wir im Dunkeln auf die Kutsche von Beatrice d'Hirson warteten. Glücklicherweise waren die Pelzmäntel, die wir aus Avignon mitgebracht hatten, lang genug, um auch unsere Beine zu bedecken. Der Junge hatte außerdem noch ein Filzbirett aufgesetzt, und ich hatte mir einen Hut aus Biberfell übergestülpt, der meinen Kopf vor dem eisigen Wind schützte. An diesem
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