Iacobus
auf die Zehenspitzen, um mit der Hand Jonas' ungekämmten Haarschopf zu berühren. »Ihr seid ja wieder ein ganzes Stück gewachsen. Jetzt seid Ihr schon so groß wie Euer Vater.«
»Und ich bin froh, daß Ihr Eure Krähe nicht mitgebracht habt«, stellte Jonas als einzigen Gruß klar, doch trotz der Schroffheit, die er seinen Worten verlieh, verrieten seine zu einem Lächeln verzogenen Lippen und das Zinnoberrot seiner Wangen die Freude, sie wiederzusehen.
»Und dies, Sara«, fuhr ich mit dem Begrüßungs- und Vorstellungsritual fort, »dies ist Niemand, ein Reisegefährte, der es uns mit seiner Großzügigkeit ermöglichte, Euch einzuholen.«
»Welch seltsamer Name! Wie sagtet Ihr, heißt er …?«
»Ich heiße Niemand, Doña Sara. Don Galcerán gab mir diesen Namen, obwohl ich eigentlich als reisender Kaufmann einen anderen, treffenderen Namen habe. Aber da mir Niemand gefällt, nennt mich doch ebenfalls so, wenn es Euch nicht zu sehr stört.«
»Natürlich, Señor, jedem steht es frei, sich so zu nennen, wie es ihm beliebt.«
»Und Ihr, Sara?« fragte ich. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. »Was führt Euch hierher?«
»Das ist eine sehr lange Geschichte für die kurze Zeit, die seit Eurer Abreise aus Paris vergangen ist. Und jetzt ist auch nicht der passende Zeitpunkt dafür, sie zu erzählen. Wichtig ist vielmehr zu erfahren, ob ihr schon zu Abend gegessen habt, und falls nicht, ob Ihr mit mir das bescheidene Mahl der Familie Ben Maimón teilen möchtet.«
»Wir haben schon gegessen«, erklärte ich verzagt und bereute zutiefst, den Jungen und den Alten nicht in der Herberge zurückgelassen zu haben. Außer fest zu vereinbaren, den Weg nach Burgos gemeinsam zu machen, hatte ich keine gute Ausrede mehr, um das Wiedersehen mit Sara noch in die Länge zu ziehen; es war offensichtlich, daß in jenem Augenblick weder ich ihr den Grund unserer Reise erzählen konnte noch umgekehrt. Die einzige Lösung war wohl ein späteres Treffen, sofern ich mich von meinen beiden Begleitern befreien konnte, und zum Glück war Sara auf denselben Gedanken gekommen, denn als wir uns an der Tür von Judahs Laden verabschiedeten, richtete sie es so ein, daß sie mir schlangengleich ins Ohr flüsterte, sie erwarte mich am Eingang des Marktes, sobald der Junge und der Alte eingeschlafen wären.
Kurz vor der Stunde der Mette, gegen Mitternacht, deuteten Niemands gleichmäßige Atmung und die unzusammenhängenden Seufzer des Jungen daraufhin, daß der Augenblick gekommen war, den Schlafsaal des Hospizes zu verlassen und zu dem Treffen mit Sara zu eilen. Zwar mußte ich mich immer wieder vor den nächtlichen Streifen verbergen, doch schließlich gelangte ich zu den Eingangstoren des Marktes und erspähte im Halbdunkel zwei Silhouetten.
»Das ist Salomo, Judahs Schwiegersohn«, flüsterte Sara und nahm mich bei der Hand, um mich in Richtung jüdisches Viertel zu ziehen. »Kommt. Hier sind wir in Gefahr.«
Wie drei Übeltäter, die vor der Gerichtsbarkeit fliehen, umrundeten wir heimlich die Mauern, und an einer unübersichtlichen Biegung am Fuße des Berges betraten wir durch eine winzige, hinter Gestrüpp verborgene Pforte das Judenviertel.
In wenigen Minuten waren wir wieder in Judahs Seidenladen, der uns am neuangefachten Feuer geduldig erwartete.
»Komm, Salomo«, sagte er zu seinem Schwiegersohn. »Die beiden müssen allein reden.«
»Danke, Abba«, wisperte Sara und ließ die Mantille auf ihre Schultern gleiten, mit der sie sich bis zu diesem Augenblick den Kopf bedeckt hatte. »Nehmt Platz, Sire«, sagte sie zu mir und wies auf zwei Schemel, die man für uns am Feuer bereitgestellt hatte. Wenn die Welt in jenem Moment stehengeblieben wäre, wenn die Nacht, jener Augenblick ewig gedauert hätte, ich hätte weder protestiert noch die Rückkehr der Sonne eingefordert. Saras vom Feuer beschienenes Gesicht und ihr offenes, wie Silber zwischen all der Seide glänzendes Haar genügten mir, um den Rest meines Lebens auszufüllen.
»Fangt Ihr an oder ich?« fragte sie in diesem ungehörigen Ton, an den ich mich seit Paris so gut erinnerte.
»Beginnt Ihr, Señora, ich bin neugierig, zu erfahren, was Euch hierhergeführt hat.«
Sara lächelte und zögerte mit der Antwort, während sie im Feuer die Holzscheite betrachtete. Einer von ihnen krachte gerade auseinander und verteilte seine Glut über die anderen.
»Erinnert Ihr Euch, daß ich Mathilde d'Artois, der Schwiegermutter von Philipp dem Langen, einige Dienste
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