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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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einer Cola und einem Souvlaki im Central Park eingeladen –, sagte sie zu ihm: »Bist du bereit?« Er wußte sofort, was sie meinte, und überlegte einen Moment, dann nickte er und erwiderte überrascht: »Ja, okay, ich bin bereit.« Aber er bereitete sie vor.
    Er konnte ihr dies nicht antun, ohne sie vorher einzustimmen. Daher erzählte er ihr vorher von seiner Vergangenheit, erzählte ihr mehr über sich selbst, als er je einem anderen Menschen erzählt hatte.
    Jack erklärte Caroline, daß er die Tragödie, die einen so langen Schatten auf seine Jugend geworfen hatte, bewältigt hatte. Er hatte sie bewältigt – weil er sie überlebt hatte und wußte, daß er damit würde leben müssen. Es war geschehen, so wie anderen Kindern Niederlagen in der Little League oder Armbrüche oder Scheidungen der Eltern zustießen. Doch als sie Fragen zu stellen begann, zögernd und behutsam, aber niemals aufdringlich oder verletzend, und dann seinen Arm berührte und sanft drückte, als wäre es ihr Recht, alles von ihm zu wissen, was es zu wissen gab, gestand er, daß er nachts manchmal noch immer aufwachte, entsetzt von den Bildern, die vor seinen Augen abliefen: er, starr vor Angst dastehend, unfähig, seiner Mutter zu helfen; der Wahnsinnige, ihn aus dem zerschmetterten Fenster haltend; Dom, ihn zurückreißend und in Sicherheit bringend. Wenn er nicht schlafen konnte, dann deshalb, weil ihn ein Gefühl der Schuld überkam. Er hatte überlebt und sie nicht. Sie hatte etwas unternommen, um ihn zu retten, er wußte, daß sie deshalb auf ihn zugerannt war, ehe der Verrückte sie festhielt. Aber er hatte nicht ihre Kraft und ihren Willen gehabt. Er hatte sie nicht gerettet. Er hatte sie sterben lassen, und damit mußte er für immer leben.
    Nachdem sie sich in dieser Nacht in dem Einzelbett in seinem winzigen möblierten Zimmer im Haus an der Ecke 118 th Street und Amsterdam Avenue geliebt hatten, bemerkte er, daß sie über das, was er ihr erzählt hatte, nachgedacht hatte. Und er nahm an, sie würde ihm jetzt irgend etwas Dämliches sagen, würde versuchen, ihn zu trösten, indem sie meinte: Es war nicht deine Schuld, oder: Du kannst andere Menschen nicht retten, oder: Du warst doch noch ein Kind, oder eine dieser anderen sinnlosen Phrasen, mit denen so viele Menschen ihn im Laufe der Jahre bedacht hatten, um sich besonders nett zu zeigen. Aber sie sagte nichts dergleichen. Statt dessen murmelte sie: »Du sagtest, deine Mutter hätte dir an diesem Tag etwas erzählen wollen. Hast du jemals rausgekriegt, was es war?«
    Jack nickte. »Dom hatte ihr einen Antrag gemacht. Sie wollte mir erzählen, daß sie heiraten würden.« Caroline rieb seine Schulter mit der Hand und küßte seinen Hals, dann bettete sie den Kopf auf seine Brust und sagte ihm, daß sie eines genau wisse: Wenn Wunden heilten, dann wäre es am Ende nicht so, als hätten sie niemals existiert. Sie hinterließen Narben, und diese Narben bestünden ein ganzes Leben lang. Sie sagte ihm, daß er niemals derselbe Mensch sein würde, der er war, bevor seine Mutter starb, er wäre jemand anderer, jemand neues. Sie sagte ihm auch, daß sie diesen neuen Menschen liebte. Dann schloß sie die Augen und schlief ein.
    Am nächsten Tag telefonierte Jack mit Dom und sagte, daß er jemanden mitbringen würde, den er ihm gern vorstellen würde.
    »O mein Gott, ist es eine Frau?« fragte Dom.
    »O mein Gott, natürlich«, erwiderte Jack.
    »Das kannst du nicht tun, Jackie. Darin bin ich wirklich nicht gut. Worüber soll ich mit ihr reden – über Steaks und Hammelkeulen?«
    »Betöre sie einfach mit deinem Mutterwitz«, sagte Jack. »Aber versuch, die Wörter ›Scheiß‹ und ›Arschloch‹ nicht zu oft in einem Satz zu benutzen, okay?«
    »Nichts als Ärger«, meinte Dom. »Weißt du das? Du machst mir nichts als Ärger.«
    Jack und Caroline fuhren direkt nach Goldmanns Psychologie-Seminar in die Stadt. Sie nahmen die Broadway-Linie der U-Bahn bis zur 14 th Street und gingen zwei Blocks von der 7 th Avenue nach Westen.
    »Was ich dir jetzt erzähle«, sagte er und griff ihre Hand, »erfuhr ich von Dom, als ich acht war. Ich habe die ganze Zeit mit diesem Wissen gelebt. Er war ein nervliches Wrack, meinte, es wäre ein großes Geheimnis, das er mir verriet, und ich weiß heute noch nicht, weshalb er es mir damals erzählte, aber ich erinnere mich, daß er sich sehnlichst wünschte, daß ich nachher etwas dazu sagte. Also sah ich ihn an und meinte: ›Danke.‹ Er war völlig

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