Icarus
gelegen, hatte angenommen, daß Jack früher gekommen sei, war schnell aus der Wanne gestiegen, hatte ihm die Tür aufgedrückt und war ins Bad zurückgekehrt. Das machte Sinn. Er konnte es sich so vorstellen …
Sie war die Treppe heraufgekommen, sah die Nachricht
– und das Messer –, die Leslee vor die Tür gelegt hatte. Ging hinein. Vielleicht hatte sie sich auf den Wannenrand gesetzt und mit dem Mädchen gesprochen, sie in eine sorglose Stimmung versetzt. Nahm Leslee bereits Drogen? Durchaus möglich. Vielleicht hatte diese Frau es gewußt. Vielleicht hatte sie gewußt, daß es nicht schwierig wäre, sie zu animieren. Sie brauchte nur die Dosis zu erhöhen. Oder vielleicht war es auch zum Kampf gekommen. Oder Leslee hatte die Augen geschlossen, sich im warmen Wasser geaalt, und dann war es passiert, ein plötzlicher Einstich, die Nadel in ihrem Arm, ein kurzes Aufbäumen, und dann …
Dann was?
Dann hatte Jack geklingelt. Leslee war bereits tot oder kurz davor. Die Frau dreht den Wasserhahn wieder auf, als Ablenkung, wenn Jack eintrifft. Sie betätigt den Türöffner, steigt über Leslees Nachricht – vielleicht tropft dabei Wasser auf das Papier, daher vielleicht die feuchte Ecke – und dann eine Treppe höher, vielleicht auch nur eine halbe Treppe. Durchaus möglich, daß sie beobachtet, wie er die Wohnung betritt. Als er die Tür schließt, läuft sie nach unten, durch die Haustür hinaus auf die Straße. Sie ist weg. In Sicherheit.
Hat sie kurz haltgemacht, um das Schloß zu zerstören? Sozusagen im nachhinein?
Warum? Welchen Zweck sollte das haben?
Erst einmal stünde er als Lügner da. Oder, noch schlimmer, es sähe aus, als wäre er in das Haus eingebrochen.
Es könnte ihn zum Mörder stempeln.
Der Fahrstuhl hielt nun auf Jacks Etage. Die Tür glitt auf, und er betrat sein Wohnzimmer. Er entschied, daß seine Phantasie außer Kontrolle geraten war. Warum sollte jemand den Wunsch haben, ihn als Mörder dastehen zu lassen? Und überhaupt, woher sollte jemand wissen, daß er in die Sache verwickelt war?
Nun, eine Person wußte es bereits. Die Totengräberin. Eva Migliarini wußte, daß er Informationen sammelte. Sie wußte, daß er die anderen Mitglieder des Teams suchte. Er konnte sich vorstellen, wie sie mit Leslee redete. Sie hatte Zugang zu Drogen. Und er sah vor seinem geistigen Auge, wie sie die Injektionsspritze hervorholte, sie in das nackte Mädchen stach, das Mädchen, das sich zwanghaft in der Badewanne den Gestank der Welt vom Körper wusch.
Jack schüttelte den Kopf, als wolle er seine übermäßig dramatischen Überlegungen vertreiben. Er ging in die Küche, nahm ein Longdrinkglas aus dem Schrank, machte kehrt und ging wieder ins Wohnzimmer, direkt zur Bar, schenkte sich einen zwölf Jahre alten Malzwhiskey ein.
Vergiß alles, sagte er sich. Du hattest gerade einen Schock. Du hast eine Leiche gesehen. Und nicht nur eine Leiche, sondern jemanden, den du kanntest, jemanden, von dem du schon viel gehört hast. Es ist nur natürlich, sich irgendwelche Dinge zusammenzuphantasieren. Mein Gott! Kein Wunder, daß McCoy dich so seltsam angesehen hat. Du mußt geklungen haben wie ein Idiot. Ein paranoider Idiot. Also vergiß es, trink deinen Scotch, sieh dir im Fernsehen das Sportmagazin an, und hör endlich auf, schlauer sein zu wollen als die New Yorker Polizei.
Jack schaltete den Fernseher ein, setzte sich in seinen Lieblingssessel und machte es sich gemütlich, während er Dan Patrick sagen hörte: »Ein Slider zu McGwire … und ein Strikeout.« Während Jack an seinem Drink nippte, blickte er nach links, zum Hopper-Gemälde, bereit zu lächeln, wie er es immer tat, wenn er es betrachtete. Nur lächelte er diesmal nicht. Denn er sah es nicht. Das Gemälde war verschwunden.
Jack sprang auf, der Scotch spritzte aus dem Glas auf sein Oberhemd. Er machte zwei Schritte zur nackten Wand und blieb abrupt stehen, weil er jetzt erst sah, daß es doch nicht weg war. Es war nur von seinem Haken an der Wand genommen worden. Jemand hatte es entfernt und gegen die Fußleiste gelehnt. Jack eilte hin und erkannte, daß es unversehrt war.
Jemand war in seinem Apartment gewesen. Aber wie? Es war unmöglich, in dieses Gebäude einzubrechen.
Und selbst, wenn jemand hatte einbrechen können … warum?
Warum sollte jemand …
Und dann wußte er, warum.
Sein Blick wanderte zu der Stelle an der Wand, wo das Bild gehangen hatte. Dort standen, in sehr kleinen Buchstaben, vier Worte, sorgfältig
Weitere Kostenlose Bücher