Icarus
intravenösen Tropfs verbunden, und schon bald strömte mehr Blut in den reglosen Körper hinein als aus ihm heraus.
Der Raum war über und über beschmiert mit dem Blut, das Jack verloren hatte, ebenso die Ärzte und Schwestern, die sich um den OP-Tisch drängten. Der Chefchirurg, Dr. Harold Salomon, zuckte mit der linken Schulter, um sich einen rötlichbraunen Spritzer von der Wange zu wischen. Er holte tief Luft und atmete dann durch die Nase aus wie ein Athlet, der im Begriff war, seine letzten Energien zu mobilisieren, und ergriff in dem jetzt stillen Saal ruhig, schnell und emotionslos das Wort. Er hätte durchaus der Chef einer Gruppe Dockarbeiter sein können, der Gewerkschaftsmitglieder über die Zusammensetzung einer Ladung und die Einteilung von Arbeitsschichten eingehend ins Bild setzt.
»Also, wir haben es mit mehreren Schußwunden zu tun. Eine Kugel hat das rechte Becken zerschmettert. Eine andere die rechte Hüfte. Die dritte Kugel ist ins linke Knie eingedrungen. In der Hüfte kam es zu einer Trümmerfraktur. Wir werden eine stützende Platte einsetzen müssen. Das ist nichts Ungewöhnliches, wir haben das alles schon mal gemacht. Die Beckengeschichte ist potentiell lebensbedrohend. Wir haben eine Ruptur der Hauptarterie. Die Kugel hat das Becken im mittleren Bereich getroffen, und abgesehen davon, daß sie Knochensubstanz zerstört hat, gehen auch noch eine ganze Reihe anderer Schäden auf ihre Rechnung. Der größte Schaden neben der Arterienruptur ist ein Blasenriß, auch dort haben wir eine massive Blutung. Wir müssen dort zuerst anfangen, weil ich, offen gesagt, nicht weiß, ob er am Leben bleiben wird. Was das Knie betrifft, so gibt es eine supracondyläre Fraktur des linken Oberschenkelknochens. Wenn er uns erhalten bleibt, führen wir mit Platten und Schrauben am Knie einen ähnlichen Wiederaufbau durch wie an der Hüfte. Alle bereit?«
Sie waren es.
Die erste Operation dauerte acht Stunden und vierzig Minuten.
Nachdem die Blutungen gestillt werden konnten, wurde eine externe Fixierung des Beckens vorgenommen. Es sah aus wie ein altmodisches Spielzeuggerüst, eine komplexe Anordnung von Röhren, Verbindungen und Scharnieren – eine Vorrichtung, die sowohl das Becken anheben als auch verhindern sollte, daß es total zersplitterte. Ihre eigentliche Funktion bestand darin, genügend Raum für den Blasenchirurgen zu schaffen, um das durchlöcherte Organ zu flicken. Wenn diese Stabilisierung nicht hielt, müßte der Patient sterben.
Das OP-Team wirkte bemerkenswert entspannt. Während sie arbeiteten, füllte sich die anfängliche Stille mit angeregtem Geplauder – Fragen über die Angriffslinie der Redskins und die sexuelle Orientierung einer Krankenschwester aus der Orthopädie, die während dieser Operation nicht zugegen war, und man beklagte sich einmal mehr über die neuen Getränkeautomaten in der Cafeteria. Dieser Teil der chirurgischen Prozedur unterschied sich nicht von der Art und Weise, wie ein Schreinermeister Regale aufstellte. Sie wurde selbstsicher, geschickt und rein mechanisch erledigt, ohne einen möglichen Irrtum auch nur in Erwägung zu ziehen.
Sobald die Entscheidungen getroffen waren, wie man weitermachen sollte, war das weitere eine rein handwerkliche Aufgabe – emotional nicht tiefschürfender, als ein Stück zerbrochenes Porzellan zusammenzukleben. Der Stolz erklärte sich aus dem sichtbaren Erfolg, wie nahtlos die einzelnen Teile zusammengesetzt wurden.
Als der sogenannte Fixateur externe an Ort und Stelle und angebracht war, kam der Blasenchirurg, Dr. Mugg, an die Reihe. Er war nicht gerade der beliebteste Vertreter der örtlichen Medizinergilde. Er neigte zu Vorträgen, während er arbeitete – sein Spitzname in den geheiligten Hallen war Dr. Schmock –, und hatte es vor einigen Monaten geschafft, sich eine spezielle Nähtechnik patentieren zu lassen. Kein anderer Chirurg im Lande durfte diese Methode anwenden, ohne ihm für jede Operation beträchtliche Tantiemen zu zahlen. Das Resultat war neben wachsender Arroganz ein neuer Ferrari und ein Wochenendhaus mit sechs Zimmern an der Küste von Maryland. Seine Hände verrichteten ihre Aufgabe jedoch stets sicher und gekonnt, und so schnell sein Mund auch plapperte, seine Augen flackerten nie. Nach nur zweieinhalb Stunden wandte er sich von dem Patienten ab und sagte: »Besser läßt es sich im Moment nicht hinkriegen. Es dauert etwa eine Woche, bis alles verheilt ist, und dann können wir eine offene
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