Icarus
würde er, Dr. Solomon, mit dem Patienten in den Operationssaal zurückkehren, um eine endgültige Platte ins Becken einzusetzen. Das bedeutete im wahrsten Sinne des Wortes, daß die Knochensplitter wie bei einem Puzzle zusammengesetzt wurden und dafür gesorgt werden mußte, daß sich die Skelettstruktur wieder in ihrem ursprünglichen Zustand befand. Danach würde vorübergehend ein Ballon in der Blase eingesetzt, der Patient würde noch einige Tage in ihrer Obhut verbleiben, bis sein hämodynamischer Kreislauf sich stabilisiert hätte, um dann per Helikopter nach New York und ins Manhattan Hospital for Special Surgery transportiert zu werden. Dort würde dann sein eigener Unfallchirurg die weitere Behandlung übernehmen.
Dr. Solomon wußte, daß er danach den Patienten nie wiedersehen würde. Er würde nie erfahren, wie sich sein Leben weiter entwickelte. Das störte den Arzt nicht sehr. Er hatte seinen Job erledigt. Und falls der Mann am Leben blieb, würden die nächsten sechs bis zwölf Monate seines Lebens nur von einer Sache beherrscht werden: Schmerzen. Harold Solomon hatte für Schmerzen nichts übrig. Er zog die kontrollierte und wissenschaftliche Sterilität des Operationssaals den langwierigen Qualen der Heilungsphase vor. Nein, sein Job war grundsätzlich beendet, desgleichen seine innere Beteiligung am weiteren Schicksal des Patienten. Aber er blieb etwa zwanzig Meter von seinem Wagen entfernt stehen, machte kehrt und eilte ins Krankenhaus zurück. Er begab sich zum Zeitungskiosk und kaufte die Morgenzeitung. Er würde wahrscheinlich nichts mehr über die Zukunft seines Patienten erfahren, doch er wollte etwas über seine Vergangenheit wissen. Er wollte wissen, was ihn so nah an den Rand totaler Vernichtung gebracht hatte. Ehe er in sein komfortables Heim mit dem Klinkerpatio im Garten und dem Nachbarn, der zweifelsfrei ein Spanner war, und seiner Verlobten, die sich ganz bestimmt wieder darüber ärgerte, daß er die ganze Nacht im Krankenhaus geblieben war, zurückkehrte, wollte Dr. Harold Solomon wissen, wessen Leben zu retten er in den vergangenen Stunden sein gesamtes Können eingesetzt hatte.
Elf
Jack Keller dachte oft über den genauen Moment nach, in dem er begriffen hatte, daß er nicht gestorben war. Es war, als er vier kurze und einfache Worte hörte. Die grundlegendste und unpoetischste aller Fragen:
»Kannst du mich hören?«
Und ja, natürlich konnte er. Es war die Stimme einer Frau, so klar und reizend, wie man sie sich nur vorstellen konnte. Ein wenig heiser, aber so wohltuend und sanft. Die Stimme wärmte ihn, ließ ihn innerlich erglühen. Aber er wußte nicht, wer da redete. Er konnte sie nicht sehen. Und sie klang so weit entfernt. Wer war sie? Er konnte sich erinnern, daß diese Frage ihn beschäftigt hatte. Sie klang so nett. So vertraut …
»Kannst du mich hören?«
Er glaubte, er hätte darauf geantwortet, aber vielleicht hatte er das auch nicht. Ja, sagte er, ich kann dich hören. Aber wer bist du?
»Jack, bitte sag mir, ob du hören kannst, was ich sage.«
Ja, ja, ja. Ich sagte doch , daß ich dich hören kann. Warum kannst du mich nicht hören?
»Dann hör mir einfach zu, Jack.«
Warum tust du das mit mir? Warum kannst du nicht verstehen, was ich sage? Und sogar als er die Worte brüllte, kannte er die Antwort: Weil ich nichts sage. Es ist alles nur in meinem Kopf. Ich rede nicht, ich denke. Ich gebe keinen Laut von mir. Aber warum nicht? Wie kann das sein? Was ist hier im Gange …?
»Du wirst wieder ganz gesund, Jack.«
Erst jetzt erkannte er die Stimme. Die wundervolle Stimme, die ihn so nachhaltig und spürbar tröstete, als wäre sie eine kühle Hand, die sich auf seine fieberheiße Stirn legte. Es war Caroline. Wie hatte er sie nicht erkennen können? Und warum konnte er sie nicht sehen? Wo war sie? Wo war er?
Plötzlich sank die Stimme zu einem Flüstern herab, und sie war ihm so nah, daß er ihren magischen Atem spürte, der sein Ohr warm umfächelte.
»Du mußt wieder ganz gesund werden, Jack. Verstehst du? Es ist für mich wichtig, daß du wieder ganz gesund wirst.«
Er spürte, wie sie seine Hand hielt. Er konnte keinen anderen Teil seines Körpers spüren, es war, als existiere der Rest von ihm nicht, aber er konnte den Druck auf seinem Handrücken fühlen, spürte auch, wie ihr Daumen sich in seine Handfläche bohrte, um die Wichtigkeit ihrer Bitte zu unterstreichen.
»Ich liebe dich. Ich liebe dich jetzt, und ich werde dich immer lieben, und
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