Icarus
hatte, weißt du noch, wie ängstlich du warst? Du hast ständig deine Scherze gemacht und so getan, als wäre alles ein Kinderspiel, aber ich wußte, daß du um mich Angst hattest, du hattest Angst, es würde weh tun, Angst, daß irgend etwas schiefgehen könnte. Ich glaube, du hast von Anfang an geahnt, daß alles schiefgehen würde. Und ich erinnere mich, wie du mal sagtest, am liebsten würdest du an meiner Stelle all das durchmachen, weil du wußtest, welche Angst ich vor den Schmerzen hatte. Ich dachte, das war das Netteste, Reizendste, das ich je gehört hatte, nämlich daß du meine Schmerzen auf dich nehmen wolltest. Und auf eine gewisse Art und Weise hast du es in diesem Raum auch getan, ich kann dich noch immer sehen, du hast so sehr gelitten, als du mich beobachtet hast. Ich war dabei, ein Baby zu bekommen, und ich sagte ständig: ›Es ist okay, mir geht es gut, es ist gar nicht so schlimm!‹ und versuchte, dich zu trösten. Ich erinnere mich noch genau an dein Gesicht, als wir … es erfuhren. Der Arzt sagte es dir, unterhielt sich mit dir, und ich wußte, es war schrecklich, aber du hast mich die ganze Zeit angeschaut, um dich zu vergewissern, daß mit mir alles in Ordnung war. Noch nie hatte jemand mich auf diese Art und Weise angeschaut. Ich weiß noch, als ich das Studium begann, ehe ich dich kennenlernte, habe ich mir beim Reiten im Central Park den Arm gebrochen. Ich mußte operiert werden, es sollten Nägel eingesetzt werden, und es war eine richtig große Sache. Ich rief Mom und Daddy an, um ihnen zu sagen, ich rechnete damit, daß einer von ihnen nach New York fliegen würde, um sich um mich zu kümmern, weißt du. Ich erinnere mich, daß, als ich das Gespräch beenden mußte, ich zu diesem Zeitpunkt längst wußte, daß sie gar nicht daran dachten, heraufzukommen. Daddy meinte nur: ›Ruf uns nach der Operation an, und erzähl uns, wie du dich fühlst.‹ Ich sagte gar nichts, aber ich wollte antworten: ›Nein! Ihr ruft mich an!‹ Aber sie taten es nicht. Es gab niemals jemanden, der daran dachte, mich anzurufen, bis ich dich kennenlernte. Nur mußtest du nicht anrufen, du warst ja da. Und wenn es möglich gewesen wäre, hättest du sogar für mich gelitten.« Für kurze Zeit schwieg sie. Jack konnte sie atmen hören. Er konnte nicht feststellen, ob diese Erinnerung sie traurig oder glücklich oder vielleicht sogar beides machte. Als sie wieder das Wort ergriff, lag in ihrer Stimme ein neuer Ausdruck von Zärtlichkeit, aber auch ein Unterton des Bedauerns. »Ich dachte seitdem, daß es vielleicht ganz richtig war, daß wir keine Kinder hatten, Jack. Wir haben einander so sehr geliebt, daß wir vielleicht für jemand anderen nicht mehr soviel an Gefühl hätten aufbringen können. Ich dachte immer, daß wir eine endliche Menge an Liebe in uns tragen, ich meine nicht nur uns beide, die Menschen insgesamt, meine ich. Wir alle. Wir können diese Liebe verbrauchen, und wenn sie weg ist, dann ist für jemand anderen, jemand neuen, nichts oder nur noch ganz wenig übrig. Wenn du reden kannst, Jack, dann sag mir, ob das stimmt. Ob wir alle Gefahr laufen, unsere Liebe zu verbrauchen …«
Ja, er wußte, daß Caroline ihn am Leben gehalten hatte. Und es war nicht nur ihre Liebe. Oder ihre Geduld. Wenn er sie reden hörte – über sie, über die Restaurants, über das Leben, das sie führten –, begriff er, daß sie nicht nur Freunde oder Verliebte oder Mann und Frau waren. Sie waren Partner , sie waren es seit ihrer ersten Begegnung, Partner in allem, und er wußte, daß er nicht so einfach verschwinden und sie allein lassen konnte. Das machte ihn stark. Und es trieb ihn an zu kämpfen. Er konnte nicht einfach aufgeben und sterben.
Da war auch noch etwas anderes. Eine zweite Sache, die ihn rettete.
Es war das, was Doktor Feldman ihm erzählte.
Als die Schmerzen unerträglich waren. Als er begriff, daß es keine schlimmeren Schmerzen geben konnte.
Das kam nach der Periode, in der er nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Selbst jetzt war er sich nicht sicher, wie lange diese Periode gedauert hatte. Tage vielleicht. Eher schon Wochen. Manchmal hörte er Stimmen, verzerrte Laute, die durch den dichten Nebel zu ihm drangen. Und er sah Gesichter, die sich über ihn beugten, die auf ihn herabschauten. Gelegentlich spürte er etwas. Er wurde angestoßen, abgetastet. Oder eine Bewegung. Einmal war er ganz sicher, daß jemand ihn umdrehte. Ein anderes Mal hatte er das Gefühl, als
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