Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
ginge jemand mit ihm im Zimmer herum, wobei er ihn lenkte, als wäre er eine Marionette. Manchmal versuchte er zu reden. Oft glaubte er, daß er spräche. Aber niemand schien ihn jemals zu verstehen.
    Ab irgendeinem Zeitpunkt begann der Nebel sich zu heben. Er war noch nicht in der realen Welt verankert, konnte jedoch von Zeit zu Zeit einen kurzen Abstecher dorthin machen. Er trieb ziellos dahin. Konnte es nicht verhindern. Plötzlich hatte er einen blitzartigen Farbeindruck, und erschrocken erkannte er, daß er den Rücken seiner eigenen fleischfarbenen Hand anstarrte. Sie war blasser, als er sie in Erinnerung hatte, doch sie hatte Substanz. Und sie war erschreckend lebendig. Er beobachtete, wie seine Finger sich bewegten, und er konnte feststellen, daß sie ein Teil von ihm waren. Manchmal erschien es ihm wie ein Wunder, daß er, wo immer er war und ganz gleich, was ihm zugestoßen war, irgendwo in den verborgenen Nischen seines Gehirns denken konnte: Beweg dich! und seine Finger der Aufforderung Folge leisteten. Sie wackelten dann und bogen sich, und sie gehorchten, ehe er erschöpft und ausgelaugt in seinen Nebel zurücksank.
    Kurz danach verwandelte sich das Durcheinander von Geräuschen und Lauten um ihn herum in Worte. Dann, gelegentlich, in ganze Sätze. Er hörte immer wieder das Wort Unfall und begriff, daß es sich auf ihn bezog. Nach dem Unfall, hörte er. Oder: Seit dem Unfall … Es ist eine Folge des Unfalls … Das Trauma eines solchen Unfalls … Und er wollte schreien: Wovon redet ihr da? Es war kein Unfall. Es war eindeutig kein Unfall. Es war reine Barbarei, entfesselt und hemmungslos. Aber es dauerte einige Zeit, bis die Laute aus seiner Kehle endlich gehört und verstanden wurden. Als er das erste Mal das Wort durstig hervorbrachte und jemand erschien, eine schwarze Frau in weißer Kleidung, um seinen Kopf anzuheben und ihm Wasser zu trinken zu geben, weinte er, rannen Tränen der Erleichterung über seine Wangen.
    Alle paar Tage kehrte etwas Neues in sein Bewußtsein zurück. Dann geschah es jeden Tag und schon bald stündlich. Das Zimmer nahm Gestalt an. Er erinnerte sich an Einzelheiten – Worte und Zahlen und Orte und Namen.
    Und so, wie die Wirklichkeit in Jacks neue Welt eindrang, kamen auch die entsetzlichen Schmerzen.
    Zuerst brachten man ihn dazu, sich zu bewegen, während er noch im Bett lag. Sie drehten ihn um, beugten behutsam seine Arme und Beine. Die Krankenschwestern erklärten ihm, was sie taten. »Wir wollen doch nicht, daß es zu einer Thrombose kommt«, sagte eine von ihnen. Und als eine andere erschien, um weitere Übungen mit ihm zu machen, hieß es: »Das geschieht, damit es nicht zu einer Lungenembolie kommt. Wir wollen doch keinen Infarkt, oder?« Jack interessierte es einen Dreck, ob er einen Infarkt bekam. Und erst recht interessierte es ihn nicht, ob sie einen Infarkt bekam. Er wünschte sich nur, daß die Schmerzen verschwanden. Denn sie überschwemmten ihn geradezu und beherrschten jeden wachen Augenblick, so daß er sich nach Schlaf, ja sogar nach dem Tod sehnte.
    Sobald er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, zwangen sie ihn, sich in einen Rollstuhl zu setzen. »Sie müssen sich bewegen«, erklärte ihm eine Krankenschwester. Dabei dachte er nur: Bitte, laßt mich sterben, damit ich diese entsetzlichen Schmerzen nicht länger ertragen muß.
    Jack wußte, daß er niemals die Worte des Arztes vergessen würde, denn sie änderten alles. Der gute alte Doc Feldman, nun ja, nicht richtig alt, er war ein Jahr jünger als Jack. Und schon jetzt der beste Unfallchirurg in New York City. Jack war, sobald sein Zustand sich stabilisiert hatte, nach New York zurückgebracht und auf die Intensivstation des Manhattan Hospital for Special Surgery in der East 70th Street verlegt worden. Allerdings konnte er sich jetzt weder an die Vorbereitungen der Aktion noch an den Flug selbst erinnern. Feldman hatte bei Jack vor Jahren eine Schulteroperation durchgeführt, nichts allzu Kompliziertes, aber er hatte seine Sache hervorragend gemacht und begann danach, regelmäßig das Restaurant zu besuchen. Gewöhnlich befand er sich in Begleitung einer attraktiven Frau, und ein-oder zweimal saßen sie zu viert – Feldmann, seine Begleiterin, Jack und Caroline – zusammen und unterhielten sich angeregt. Die lebensverändernden Worte fielen, während der Arzt im Krankenhaus seinen Rundgang machte und seinen Freund und Patienten reglos im Bett liegen sah. Er beugte sich über das Bett, berührte

Weitere Kostenlose Bücher