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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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er jeden Tag tat: auf dem Balkon sitzen und in der Zeitung von Charlottesville die Berichte über Carolines Ermordung lesen.
    Der Ort war wichtig für ihn. Sie hatten die Wohnung wegen der Terrasse gekauft, mit allem, was sie symbolisierte, daher war es eigentlich egal, welches Wetter herrschte. Wenn es regnete, ließ er Mattie den Schirm aufspannen, den Caroline als Sonnenschutz hatte einbauen lassen. Wenn es kalt war, zog er einen Pullover an. Wenn er an seine Ehe dachte, wenn er an sie beide dachte, stellte er sich vor, wie sie zu zweit an diesem gußeisernen Tisch gesessen hatten, der so nahe am Rand der Terrasse stand, wie er sich an sie heranzurücken wagte – im Laufe der Jahre hatte er sein Limit erfahren; sein Platz war genau zwei Meter sechzig von der Randmauer entfernt –, und ein üppiges und gemütliches Frühstück genossen hatten, wobei ihre Knie einander berührten und ihre Hand seine Hand streifte, während sie nach einer Scheibe Toast oder dem Marmeladenlöffel griff.
    Nachdem er durch Matties Unterbrechung in seiner Konzentration gestört worden war, fing Jack mit der Lektüre des Artikels wieder ganz vorn an und las aufmerksam jedes Wort vom ersten bis zum letzten Satz. Wie immer versuchte er verzweifelt, irgendeine besondere Bedeutung oder so etwas wie Trost oder sogar etwas so Simples wie eine gewisse Ordnung in dem zu finden, was er las. Aber wie immer fand er, sobald er das Ende des Artikels erreichte, nur Sinnlosigkeit und Chaos und unendliche Traurigkeit.
    Von der ersten Seite des The Charlottesville Constitution ;
    2. April:
    … Es ist nicht bekannt, ob der Tatverdächtige an der Party anläßlich der Eröffnung von Jack’s teilgenommen hat, daher läßt sich auch nicht eindeutig bestimmen, wie er sich Zugang zu dem Büro verschaffte. Die Polizei nimmt an, daß der Verdächtige nach den Schüssen nicht in den Speisesaal des Restaurants hinuntergelaufen ist, sondern aus dem Bürofenster kletterte und sich auf das Dach des Gebäudes hochzog. Von dort ist er wahrscheinlich auf die angrenzende Gartenterrasse hinabgestiegen, von wo er ohne große Schwierigkeiten auf die Water Street gelangen konnte. Dort befinden sich mehrere Parkplätze, wo möglicherweise ein Auto für ihn bereitstand.
    Die Polizei läßt verlauten, daß sie mit allen verfügbaren Mitteln nach dem Verdächtigen fahndet und mit einer baldigen Festnahme rechnet.
    Jack faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den schweren Gußeisenstuhl neben sich. Er beugte sich vor und griff nach der Kaffeekanne in der Mitte des Tisches. Während dieser Aktion zuckte er instinktiv zurück, aber es war zu spät, er hatte seinen Gedanken nachgehangen und war nicht ganz vorbereitet auf den blitzartigen Schmerz, der ihn jetzt traf, von seiner rechten Hüfte nach unten zuckte und wie durch Hexerei über seinen ganzen Körper wanderte, um durch sein linkes Kniegelenk zu verschwinden. Jack schloß die Augen, erkannte, daß er die Kaffeekanne in der Hand hatte und daß seine Hand zitterte, unvermittelt, es war ein heftiges Beben. Er zwang sich deshalb, erneut die Augen zu öffnen und die Kaffeekanne so langsam wie möglich auf ihren Platz zu stellen. Er holte tief Luft, wartete eine volle halbe Minute, konzentrierte sich, dann raffte er sich auf und griff abermals nach der Kanne. Der Schmerz stellte sich wieder ein, aber diesmal war er voll und ganz darauf vorbereitet, daher hielt er sich an der Kaffeekanne fest, griff sogar nach seiner Tasse und schenkte sich eine zweite Portion ein. Er schaffte es zu trinken, wenigstens zwei schnelle Schlucke, ehe das Zittern in seiner Hand ihn dazu zwang, die Tasse abzustellen.
    Er rührte sich nicht, verharrte so reglos wie möglich, bis der Schmerz beherrschbar wurde. Während er wie erstarrt da saß, erkannte er, daß unter den vielen Dingen, die sich für ihn in den vergangenen Monaten verändert hatten, die bei weitem größte Veränderung die Schmerzen waren. Ja, er konnte damit umgehen. Es war nicht mehr jene Art von unerträglichem, betäubendem Schmerz, den er zu Beginn seiner Genesung erfahren hatte. Damals war ihm der einfache Akt, sich im Bett auf die andere Seite zu drehen, undurchführbar erschienen, und der behutsamste erste Schritt dazu fühlte sich an, als zertrümmerte ein Vorschlaghammer seine Knochen und als fräße sich ein Bohrer in seine Nervenenden. Sie waren auch nicht mehr so allgegenwärtig wie kurz nach den Schüssen. Er erlebte jetzt Momente der Erleichterung, lange Minuten, in

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